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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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was er suchte. Ganz unten, unter Pullovern und Schuhen, unter einem Poesiealbum aus der Jungmädchenzeit war das alte Theaterprogramm, auf das er gehofft hatte. Ein dünnes Heft, auf der Umschlagseite mit einem Diagonalstreifen unterteilt, im oberen Dreieck Schwarz auf Weiß, Die Herzogin von Malfi, im unteren Weiß auf Schwarz, Drei Schwestern.
    Ungeduldig blätterte er das Heft durch, um zu sehen, wer damals gespielt hatte. Aber als er die beiden Verzeichnisse fand, traute er kaum seinen Augen. Mit Ausnahme von Irene Sinclair und mehreren Ensemblemitgliedern, an denen er kein Interesse hatte, hatten in beiden Stücken dieselben Schauspieler mitgewirkt: Joanna Ellacourt, Robert Gabriel, Rhys Davies-Jones und, um alles noch ein bißchen komplizierter zu machen, sogar Jeremy Vinney in einer kleinen Rolle, vermutlich der Schwanengesang seiner kurzen Bühnenkarriere.
    Mit einer irritierten Bewegung warf Lynley das Programm beiseite. Er stand von dem unbequemen Stuhl auf und ging ein paarmal in dem kleinen Speicherraum auf und ab. Die wenigen Eintragungen Hannahs über ihren Liebhaber mußten doch einen Hinweis enthalten, irgend etwas, das er übersehen hatte, das, wenn auch vielleicht indirekt, über die Identität des Mannes Auskunft gab. Vielleicht hatte er es gelesen, ohne sich der Bedeutung bewußt geworden zu sein. Er kehrte zu dem Stuhl zurück, nahm wieder das Tagebuch zur Hand und begann die Lektüre von vorn.
    Erst beim vierten Durchgang entdeckte er es: »Er hat gesagt er zeigt mir wies geht. Natürlich er kanns ja auch. Er weis wie man das macht.« Die Worte ließen nur zwei Deutungen zu: Entweder handelte es sich um den Regisseur des Stücks oder um den Schauspieler, der in jener Szene mitgewirkt hatte, aus der Hannahs »Abschiedsbrief« entnommen war. Ein Regisseur verfügte selbstverständlich über das Können und die Erfahrung, einem von aller Sachkenntnis ungetrübten jungen Ding wenigstens das Grundlegende dessen zu zeigen, was beim Spiel auf der Bühne wichtig war. Und ein Schauspieler, dem die Szene aus eigener Mitwirkung vertraut war, hätte ihr ohne weiteres die richtigen Anweisungen für ihr Spiel geben können.
    Ein rascher Blick ins Programm zeigte Lynley, daß Stuart Stinhurst der Regisseur gewesen war. Ein Pluspunkt für Barbara Havers und ihren Riecher. Jetzt blieb nur noch festzustellen, aus welcher Szene in Drei Schwestern der »Abschiedsbrief« stammte und wer die Rollen in dieser Szene gespielt hatte. Er konnte sich jetzt vorstellen, wie es gewesen war: In ihrer Tasche das sauber geschriebene Skript, war Hannah zur Mühle gegangen, um dort ihren Liebhaber zu treffen. Nachdem der Mann sie getötet hatte, hatte er die Abschrift an sich genommen, jenen Teil herausgerissen, der sich wie ein Abschiedsbrief las, und den Rest mitgenommen.
    Lynley klappte die beiden großen Koffer zu, knipste das Licht aus, nahm den Stapel Tagebücher und das Programm mit hinunter. Im Wohnzimmer stieß er auf Teddy, der, die Füße auf einem niedrigen Couchtisch, vor dem Fernsehapparat saß und von einem blauen Blechteller Fischstäbchen aß. Als der Junge Lynley bemerkte, sprang er auf und schaltete das Gerät aus.
    »Habt ihr hier Bücher mit Theaterstücken?« fragte Lynley, obwohl er der Antwort schon ziemlich sicher war.
    »Bücher mit Theaterstücken?« wiederholte Teddy kopfschüttelnd. »Nein. Wir haben überhaupt keine Bücher. Platten und so was, ja. Und Zeitschriften auch.« Während er sprach, schien ihm klar zu werden, daß es Lynley nicht um Unterhaltung ging. »Mein Vater hat gesagt, daß Sie von der Polizei sind. Er will nicht, daß ich mit Ihnen rede.«
    »Aber daran hältst du dich im Moment offensichtlich nicht.«
    Teddy schnitt ein Gesicht und wies mit dem Kopf auf die Tagebücher unter Lynleys Arm. »Geht wohl um meine Mutter, hm? Ich hab die Bücher gelesen. Mein Vater hat mal einen Abend aus Versehen die Schlüssel stecken gelassen. Ich hab sie alle gelesen.« Verlegen wippte er auf den Fußballen auf und nieder. »Wir haben nie darüber geredet. Ich glaub, mein Vater könnte das gar nicht. Aber wenn Sie den Kerl erwischen, erfahr ich's dann?«
    Lynley zögerte unsicher.
    »Sie war immerhin meine Mutter«, sagte der Junge. »Sie war keine Heilige, und sie war nichts Besonderes, aber sie war meine Mutter. Sie hat mir nichts Böses getan. Und ich weiß, daß sie nicht Selbstmord begangen hat.«
    »Nein. Das hat sie nicht getan.« Lynley wandte sich zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen.

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