02 - Keiner werfe den ersten Stein
Helen Clyde das Gefühl mit sich herum, daß sie eigentlich froh und glücklich sein müßte. Denn sie hauen ja vollbracht, was sie sich vorgenommen hatten. Sie hatten Tommy bewiesen, daß er sich getäuscht hatte. Dank ihren Recherchen über Lord Stinhursts Familie und seine Geschichte hatten sie zeigen können, daß jeglicher Verdacht gegen Rhys Davies-Jones, den Tod von Joy Sinclair und Gowan Kilbride verschuldet zu haben, praktisch unhaltbar war. Und sie hatten damit der Ermittlungsarbeit eine neue Richtung gegeben. Als Barbara Havers gegen Mittag bei St. James anrief und ihm mitteilte, daß Stinhurst zur Vernehmung nach New Scotland Yard gebracht worden war und die Verbindung seines Bruders zum sowjetischen Nachrichtendienst eingestanden hatte, hätte Helen also eigentlich überglücklich sein müssen.
Sie war kurz nach zwei von St. James weggegangen, weil sie den Rest des Tages für sich haben wollte, um sich auf die Begegnung mit Rhys vorzubereiten, diesen Abend, der ein Fest und eine Feier werden sollte. Aber statt nach Hause zu fahren, war sie stundenlang in Knightsbridge herumgelaufen und hatte unnötige Besorgungen gemacht, und statt der Glücksstimmung, die sie von sich selbst erwartete, verspürte sie nur Zweifel und Unsicherheit.
Anfangs sagte sie sich, dieses innere Durcheinander käme nur daher, daß Stinhurst seine Beteiligung an den beiden Morden auf Westerbrae noch nicht zugegeben hatte. Aber sie wußte, daß sie an dieser Lüge nicht lang würde festhalten können. Wenn es der Kriminalpolizei Strathclyde gelingen sollte, auch nur ein Härchen, einen Blutstropfen, einen Fingerabdruck zu sichern, der bewies, daß Stinhurst bei diesen Morden sehr wohl die Hand im Spiel gehabt hatte, würde sie nicht mehr umhin können, der wahren Ursache ihres inneren Aufruhrs ins Auge zu sehen. Es ging nicht um die Frage, ob der eine schuldig und der andere unschuldig war; es ging um Tommy, sein hoffnungsloses Gesicht, die letzten Worte, die er gestern abend an sie gerichtet hatte.
Gleichzeitig jedoch war sie sich im klaren darüber, daß alle Qual, die Tommy jetzt vielleicht durchmachte, sie höchstens am Rande hätte kümmern dürfen. Denn Rhys war unschuldig. Das war es doch, was zählte. Sie hatte sich in den letzten vier Tagen so hartnäckig an diese Überzeugung geklammert, daß sie jetzt nicht loslassen und an anderes denken konnte, daß sie sich nicht erlauben konnte, sich einem anderen als ihm zuzuwenden. Sie wünschte, Rhys von allem Verdacht befreit zu sehen, damit alle - nicht nur sie - ihn als den erkennen konnten, der er wirklich war.
Es war nach sieben, als ihr Taxi am Onslow Square anhielt, wo sie ihre Wohnung hatte. Der dicht fallende Schnee wurde vom Ostwind von dem Eisengitter, das die Grünanlage in der Mitte des Platzes umgab, zu kleinen Häufchen zusammengetrieben. Als Helen aus dem Taxi stieg und in die klare kalte Luft trat, blieb sie einen Moment stehen, um den Anblick und die Stille des unter dem Schnee wie verwandelt wirkenden Platzes zu genießen. Dann hob sie leicht fröstelnd ihre Päckchen vom Boden auf und eilte die Treppe zu dem Haus hinauf, in dem ihre Wohnung war. Sie kramte in ihrer Handtasche nach den Hausschlüsseln, aber ehe sie sie gefunden hatte, öffnete ihr Mädchen die Tür und zog sie herein.
Caroline Shepherd war seit gut drei Jahren bei Helen Clyde angestellt, fünf Jahre jünger als ihre Arbeitgeberin und rührend um sie besorgt.
»Gott sei Dank!« rief sie und schlug die Haustür zu. »Ich hab mir solche Sorgen um Sie gemacht. Kein Mensch wußte, wo Sie sind, und es ist schon nach sieben. Lord Asherton hat ungefähr hundertmal angerufen, und Mr. St. James auch. Und Mis!Havers von New Scotland Yard. Und Mr. Davies-Jones wartet schon seit fast einer Stunde im Wohnzimmer auf Sie.«
Helen wartete, bis der Redestrom versiegte, dann reichte sie Caroline ihre Päckchen und eilte zur Treppe. »Guter Gott, so spät ist es schon? Und dabei ist heute Ihr freier Abend, nicht wahr? Das tut mir wirklich leid, Caroline. Verzeihen Sie. Haben Sie sich jetzt meinetwegen verspätet? Treffen Sie sich mit Denton? Hoffentlich nimmt er mir das nicht allzu krumm?«
Caroline lachte. »Das glaube ich nicht. Ich lege ein gutes Wort für Sie ein. Ich bring die Sachen nur rasch in Ihr Zimmer, dann geh ich.«
Helen bewohnte die größte Wohnung im Haus, sieben Räume im ersten Stock mit einem großen Wohnzimmer, das auf den Platz hinausging. Die Vorhänge waren aufgezogen, und Rhys
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