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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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der anderen wieder auf sich, indem sie sagte: »Ich kann mir vorstellen, daß Joys Tagebücher eine aufregende Lektüre sind. Aber wenn du jetzt wach bist, können wir uns vielleicht wieder dem Stück widmen.«
    Irene schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nicht Joys Tagebücher«, sagte sie und ließ ihre Stimme dabei eine Spur schrill werden. »Es waren fremde. Sie waren gestern per Expreß gekommen, und als ich das Paket aufmachte, fand ich den Brie!von dem Ehemann der armen Person, die sie geschrieben hatte -«
    »Lieber Gott, ist das wirklich nötig?« Joannas Gesicht war weiß vor Zorn.
    »- ich fing an zu lesen. Ich bin zwar nicht sehr weit gekommen, aber ich habe gleich gesehen, daß es das Material war, auf das Joy gewartet hatte, um ihr nächstes Buch schreiben zu können. Ihr wißt doch, das Buch, von dem sie an dem Abend in Schottland sprach. Und plötzlich - auf einmal wurde mir bewußt, daß sie wirklich tot ist, daß ich sie niemals wiedersehen werde.«
    Ihre Tränen begannen zu fließen, als sie die erste Regung echten Schmerzes verspürte. Als sie weitersprach, hielt sie sich kaum noch an das Skript, das sie und Sergeant Havers so sorgsam vorbereitet hatten. Sie lief Gefahr, die Kontrolle zu verlieren, das wußte sie. aber die Worte mußten ausgesprochen werden. Nichts sonst war wichtig.
    »Und nun wird sie das Buch niemals schreiben. Mir war, als ob - wie ich da mit Hannah Darrows Tagebüchern in ihrem Haus saß -, als müßte ich das Buch für sie schreiben, wenn ich es nur könnte. Zum Zeichen, daß ich - daß ich am Ende doch verstanden habe, wie es zwischen ihnen dazu kommen konnte. Ja, ich habe es endlich verstanden. Es hat weh getan. Es war eine Qual. Aber ich habe es verstanden. Und ich glaube nicht - Sie war immer meine Schwester. Das habe ich ihr nie gesagt. O mein Gott, ich kann jetzt, wo sie tot ist, nicht mehr dorthin zurück.«
    Sie versuchte nicht ihre Tränen zu unterdrücken. Sie weinte rückhaltlos und verstand endlich die Qualen ihres Schmerzes. Sie trauerte um ihre Schwester, die sie geliebt und der sie zu spät verziehen hatte; sie trauerte um ihre Jugend, die sie an einen Mann vergeudet hatte, der ihr letztendlich nichts bedeutete. Sie weinte um die Jahre, die dahin waren, und nichts kümmerte sie als dieser Akt der. Trauer.
    »Jetzt reicht's aber wirklich«, sagte Joanna Ellacourt scharf. »Kann denn keiner was tun? Soll sie vielleicht den ganzen Tag hier sitzen und heulen?« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »David«, sagte sie drängend.
    Aber Sydeham blickte in den Zuschauerraum hinunter.
    »Wir haben Besuch«, sagte er.
    Marguerite Rintoul, Gräfin Stinhurst, stand im Zuschauerraum.

    Sie wartete gerade so lang, bis er die Tür seines Büros hinter sich geschlossen hatte. »Wo warst du in der vergangenen Nacht!Stuart?« fragte sie dann scharf, während sie Handschuhe und Mantel ablegte und beides auf einen Sessel warf.
    Sie war sich bewußt, daß sie noch vor vierundzwanzig Stunden nicht gewagt hätte, eine solche Frage zu stellen. Sie hätte seine Abwesenheit und die Tatsache, daß er sich nicht einmal gemeldet hatte, unterwürfig wie immer hingenommen. Sie wäre tief gekränkt gewesen, hätte aber aus Angst vor der Wahrheit geschwiegen. Darüber war sie nun hinaus. Das, was sie gestern in diesem Zimmer erfahren hatte, und eine lange schlaflose Nacht der Konfrontation mit sich selbst hatten in ihr eine Empörung und einen Zorn geweckt, dem auch eine steinerne Abwehrmauer absichtlicher Nichtachtung nicht die Spitze brechen konnte.
    Stinhurst ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich in den schweren Ledersessel.
    »Setz dich«, sagte er.
    Marguerite rührte sich nicht. »Ich habe dir eine Frage gestellt, und ich möchte eine Antwort darauf. Wo warst du gestern nacht? Und bitte versuche nicht mir weiszumachen, daß man dich bis heute morgen um neun Uhr in New Scotland Yard festgehalten hat.«
    »Ich habe in einem Hotel übernachtet«, sagte Stinhurst.
    »Nicht in deinem Club?«
    »Nein. Ich wollte völlige Anonymität.«
    »Natürlich, die hast du zu Hause nicht.«
    Einen Moment lang sagte Stinhurst nichts. Er spielte mit einem langen, silbernen Brieföffner auf seinem Schreibtisch. »Ich konnte dir nicht gegenübertreten.«
    Ihre Reaktion auf diese Worte zeigte vielleicht deutlicher als alles andere, wie sehr ihre Beziehung sich verändert hatte. Seine Stimme war ruhig, aber spröde, als könnte die geringste Provokation den Zusammenbruch herbeiführen. Sein Gesicht war bleich,

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