02 - Keiner werfe den ersten Stein
Tablett auf den äußersten Tischrand. Barbara schob hastig die Hand darunter, ehe es zu Boden fallen konnte. »Hast du Brasilien gesehen, Herzchen?« Zärtlich strich Doris Havers über den abgeschabten Kunstledereinband ihres Albums. »Ich hab heut noch ein bißchen dran gearbeitet.«
»Ja, ich hab's mir eben angesehen.« Barbara fuhr fort, Dosen zu leeren und in den Müllbeutel zu werfen. In der Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr. Fäulnisgeruch verriet ihr, daß irgendwo unter dem Berg noch alte Essensreste versteckt waren. »Ich habe chinesisches Essen mitgebracht«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Aber ich muß gleich wieder weg.«
»Ach nein, Herzchen«, jammerte ihre Mutter. »Bei dieser Kälte? Und wo's schon stockfinster ist? Das ist doch gefährlich. Junge Frauen sollten nachts nicht allein auf die Straße gehen.«
»Ich muß arbeiten, Mama«, erwiderte Barbara.
Sie war dabei, den Tisch zu decken, und hörte mit halbem Ohr dem Gebabbel ihrer Mutter von der Reise nach Brasilien zu, als es draußen läutete. Sie sahen einander an.
Das Gesicht ihrer Mutter verdunkelte sich. »Das wird doch nicht - Nein, ich weiß. Tony kommt nie wieder, nicht? Er ist ja tot, nicht wahr?«
»Ja, er ist tot, Mama«, antwortete Barbara entschieden.
»Setz das Teewasser auf. Ich geh rasch an die Tür.«
Es läutetet ein zweites Mal, noch ehe sie im Flur war. Gereizt vor sich hinbrummend, schaltete sie die Außenbeleuchtung ein und zog die Tür auf. Ungläubig starrte sie auf Helen Clyde. Sie war ganz in Schwarz, und das hätte Barbara eigentlich warnen müssen. Doch in diesem Moment war sie keiner Überlegung fähig, einzig des schrecklichen Gedankens, daß sie, wenn dies nicht ein Alptraum war, aus dem sie gleich erleichtert erwachen würde, Helen Clyde ins Haus bitten mußte.
Die jüngste Tochter des Earl of Hesfield, auf einem Schloß in Surrey aufgewachsen, in einer der vornehmsten Gegenden Londons zu Hause, war in die Slums von Acton gekommen - wozu? Barbara konnte sie nur entgeistert anstarren, warf einen Blick auf die Straße, sah ein paar Häuser entfernt Helens roten Mini stehen. Hinter sich hörte sie das nervöse Gezeter ihrer Mutter.
»Herzchen? Wer ist es denn? Es ist doch nicht -«
»Nein, Mama. Alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken«!rief sie über die Schulter zur Küche.
»Verzeihen Sie, Barbara«, sagte Helen. »Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, hätte ich Sie nicht belästigt.«
Ihre Worte brachten Barbara wieder zu sich. Sie hielt die Tür auf. »Kommen Sie herein.«
Als Helen an ihr vorüberging und im engen Flur stehenblieb, ertappte sich Barbara dabei, wie sie das Haus unwillkürlich mit den Augen der Fremden musterte und es so sah, wie diese es sehen mußte - als einen Ort, wo Armut und Verrücktheit ein wildes Regiment führten. Das rissige Linoleum auf dem Boden, ungeschrubbt, bedeckt von Fußabdrücken und kleinen Pfützen geschmolzenen Schnees; die verblaßte Tapete, die sich in den Ecken von der Wand gelöst hatte, und bei der Tür ein großer feuchter Fleck, schon weißlich von Moder; die nackte Holztreppe mit den Haken an der Wand, wo Mäntel und Jacken hingen, von denen einige schon seit Jahren nicht mehr getragen worden waren; der zerfledderte alte Rattanschirmständer; die aufdringlichen Gerüche nach verbranntem Essen; der ekelhafte Mief ungelüfteter Räume.
Aber mein Zimmer sieht anders aus, hätte sie am liebsten gerufen. Ich schaffe es nicht, den Haushalt zu führen, meine Arbeit zu machen, zu kochen und darauf zu achten, daß alles sauber ist!
Aber sie sagte nichts dergleichen und wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken.
»Das ist meine Mutter«, erklärte Barbara nur, als diese ängstlich aus der Küche spähte.
Helen ging auf Doris Havers zu und bot ihr die Hand.
»Ich bin Helen Clyde«, sagte sie und warf einen Blick in die Küche. »Ich habe Sie doch hoffentlich nicht beim Abendessen gestört, Mrs. Havers?«
Doris Havers lächelte breit. »Heut abend gibt's chinesisch«, sagte sie. »Wir haben genug da, wenn Sie einen Teller mitessen wollen, nicht wahr, Barbie?«
Zu einer anderen Zeit hätte Barbara vielleicht ein Lächeln bitterer Erheiterung zustandegebracht bei der Vorstellung, Helen Clyde könnte bei ihr zu Hause am Küchentisch sitzen, sich mit ihrer Mutter über deren imaginäre Reisen in alle Teile ihrer verrückten Welt unterhalten und dabei chinesische Spezialitäten direkt aus der Pappe essen. Jetzt jedoch fühlte sie
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