02 - Keiner werfe den ersten Stein
gewesen sein. Auf keinen Fall kann sie mit ihm geschlafen haben.« Er berichtete von dem Autopsiebefund aus Strathclyde.
»Vielleicht ist da im Labor ein Fehler unterlaufen.«
Lynley mußte lächeln bei der Vorstellung. »Unter Macaskins Leitung? Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Gestern abend, als Irene Sinclair mir die Geschichte erzählte, glaubte ich zuerst, sie hätte sich getäuscht.«
»Du meinst, daß Gabriel mit einer anderen Frau zusammen war?«
»Ja, das glaubte ich zuerst. Ich dachte, Irene hätte nur automatisch angenommen, es sei ihre Schwester gewesen. Oder vielleicht auch einfach das Schlimmste angenommen, als sie die beiden in Gabriels Zimmer hörte. Aber später kam mir der Gedanke, daß sie mich vielleicht belogen hat; daß sie Gabriel bewußt belasten wollte und ihre Beteuerungen, sie wolle ihn um der Kinder willen schützen, nichts als Heuchelei sind.«
»Das wäre aber wirklich gemein«, bemerkte Deborah, die, mit einer Reihe Negative in der einen und einem Vergrößerungsglas in der anderen Hand, an der Tür zu ihrer Dunkelkammer stand und dem Gespräch zuhörte.
St. James nickte. »Ja, das wäre es. Gemein und heimtückisch. Wir wissen von Elizabeth Rintoul, daß Joy Sinclair bei Vinney im Zimmer war. Hier hätten wir also eine Bestätigung, wenn man Elizabeth Rintoul trauen kann. Aber wer kann Irene Sinclairs Behauptung bestätigen, daß Joy auch bei ihrem Mann im Zimmer war? Gabriel vielleicht? Das wird er sicher nicht tun. Er wird es strikt leugnen. Und sonst hat keiner etwas gehört. Wir müssen uns also entscheiden, ob wir dem treulosen Ehemann glauben oder der leidgeprüften Ehefrau.« Er sah Lynley an. »Was ist mit Davies-Jones? Bist du immer noch so sicher, da!er es war?«
Lynley wandte sich wieder dem Fenster zu. St. James' Frage rief ihm mit schmerzhafter Deutlichkeit den Bericht ins Gedächtnis, den er gerade drei Stunden zuvor von Constable Nkata erhalten hatte, unmittelbar nachdem der junge Beamte die nächtliche Überwachung Davies-Jones' beendet hatte. Davies-Jones war unmittelbar nach Verlassen von Helens Wohnung in ein Spirituosengeschäft gegangen, wo er vier Flaschen Alkohol gekauft hatte. Nkata war sich der Zahl absolut sicher. Davies-Jones war nämlich nach dem Kauf nicht nach Hause gefahren, sondern lange durch die abendlichen Straßen gewandert. Weder die eisige Kälte noch das Schneetreiben hatten ihn schrecken können; er schien beides kaum wahrgenommen zu haben. Nkatas Bericht zufolge war er die Brompton Road hinaufgegangen, um den ganzen Hyde Park herum, bis zur Baker Street und dann weiter nach St. John's Wood, wo seine Wohnung war. Während dieser langen Wanderung hatte er eine Flasche nach der anderen geöffnet. Doch anstatt zu trinken, hatte er den Inhalt auf die Straße geschüttet. Bis alle vier Flaschen leer waren, hatte Nkata versichert und dabei den Kopf geschüttelt über diese Vergeudung.
Während sich Lynley jetzt diesen Bericht noch einmal vor Augen hielt, war für ihn ganz klar, was hinter dem Verhalten Davies-Jones' stand. Hier war ein Mann, der seine Alkoholsucht überwunden hatte und um eine Chance kämpfte, sein Leben in Ordnung zu bringen und eine neue Karriere zu beginnen, und der darum eisern entschlossen war, sich diese Chance durch nichts nehmen zu lassen, am wenigsten durch seine Vergangenheit.
»Er ist der Mörder«, sagte Lynley.
Irene Sinclair war sich darüber im klaren, daß sie diesmal die beste Rolle ihrer ganzen Karriere liefern mußte. Sie wußte, daß sie den richtigen Moment ganz allein, ohne helfendes Stichwort erfassen mußte. Es würde keinen großen Auftritt geben und keinen dramatischen Höhepunkt, wo aller Augen auf sie gerichtet waren. Darauf würde sie diesmal verzichten müssen. Ihr Auftritt begann nach der Mittagspause, als sie und Jeremy Vinney gleichzeitig im Agincourt Theatre eintrafen.
Sie stieg gerade aus dem Taxi, als Vinney, der gegenüber im Café gewesen war, mitten im dicksten Verkehr die Straße zu überqueren versuchte. Ein Auto hupte warnend, und Irene blickte auf. Vinney hatte seinen Mantel gar nicht erst angezogen, sondern trug ihn über dem Arm; es verwunderte sie ein wenig, und sie fragte sich, ob er ihretwegen das Café so überstürzt verlassen hatte. Der Journalist bestätigte es ihr schon mit seinen ersten Worten, in denen ein Unterton boshafter Neugier mitzuschwingen schien.
»Ich habe gehört, daß Gabriel gestern abend gehörig was abbekommen hat.«
Irene blieb stehen. Ihre Hand
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