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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Akte und ging zu seinem Schreibtisch. Doch er setzte sich nicht, sondern blickte, zufrieden an seiner Zigarre paffend, zum Fenster hinaus auf die Häusersilhouette der Stadt.
    »Manche Leute glauben, ich drücke mich vor der Beförderung, weil ich nicht genug Ehrgeiz habe«, bemerkte er, ohne sich umzudrehen. »Aber das stimmt nicht. Der Blick ist schuld. Wenn ich in ein anderes Büro umziehen müßte, wäre er mir genommen, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich es liebe, hier zum Fenster hinauszusehen, wenn die Dunkelheit kommt und in der Stadt allmählich die Lichter angehen.« Zigarrenasche fiel unbeachtet neben ihm zu Boden.
    Lynley dachte daran, wie sehr er diesen Mann einmal gemocht hatte, wie groß seine Achtung vor ihm gewesen war. Er verstand es, seine Unterstellten zu besten Leistungen anzuspornen, indem er bewußt jeden dort einsetzte, wo seine persönliche Stärke lag, ihn niemals dort forderte, wo er seine Schwächen hatte. Diese Fähigkeit, die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich waren, hatte Lynley an seinem Chef stets am meisten bewundert. Jetzt jedoch erkannte er, daß sie ein zweischneidiges Schwert war; sie konnte ebensogut dazu benützt werden - war in seinem Fall ja tatsächlich dazu benützt worden -, die Schwachstelle des anderen ausfindig zu machen, um ihn zu manipulieren und zum Erreichen eigener Ziele zu benützen.
    Webberly hatte genau gewußt, daß Lynley dem Wort eines Mannes gleicher Herkunft unbesehen glauben würde. Dieser feste Glaube an das »Ehrenwort des Gentleman« besaß im Adel jahrhundertealte Tradition und war ein wesentlicher Bestandteil von Lynleys Erziehung. Er ließ sich nicht einfach abschütteln. Genau darauf hatte Webberly sich verlassen, als er Lynley dazu auserkoren hatte, sich Stinhursts Märchen von der außerehelichen Affäre seiner Frau anzuhören. Nicht McPherson, Stewart oder Hale oder sonst einen, der sich die Geschichte mehr oder weniger skeptisch angehört, Marguerite Stinhurst um Bestätigung gebeten hätte und dann ohne viel Federlesens daran gegangen wäre, die Wahrheit über Geoffrey Rintoul aufzudecken.
    Da weder der Regierung noch dem Yard an einer Aufdeckung der Wahrheit gelegen hatte, hatte man den Fall genau dem Mann übertragen, von dem man mit ziemlicher Sicherheit annehmen konnte, daß er dem »Ehrenwort des Gentleman« Glauben schenken und daher in seiner Ahnungslosigkeit alle peinlichen Enthüllungen wie gewünscht verhindern würde. Er konnte Webberly nicht verzeihen, daß er ihn auf diese Weise manipuliert hatte. Und er konnte sich selbst nicht verzeihen, daß er blind die Erwartungen dieser Leute erfüllt hatte.

    Dabei war unwichtig, daß Stuart Stinhurst an Joy Sinclairs Tod keine Schuld trug. Im Yard hatte man das ja nicht gewußt, es hatte einen nicht einmal gekümmert; man war einzig darauf bedacht gewesen, die brisanten Details aus der Vergangenheit des Mannes weiterhin unter Verschluß zu halten. Wäre Stinhurst der Mörder gewesen, so hätten weder die Regierung noch New Scotland Yard die geringsten Skrupel gehabt, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Hauptsache, das Geheimnis Geoffrey Rintouls war unangetastet geblieben.
    Er fühlte sich beschmutzt. Er griff in seine Tasche, holte seinen Dienstausweis heraus und warf ihn auf Webberlys Schreibtisch.
    Webberly sah auf den Ausweis hinunter, hob den Kopf und sah Lynley an. Die Augen gegen den Zigarrenrauch zusammengekniffen, sagte er: »Was soll das?«
    »Ich mache Schluß.«
    Webberlys Gesicht sah aus wie versteinert. »Ich hoffe, ich habe Sie mißverstanden, mein Junge.«
    »Wieso? Sie alle haben doch jetzt, was Sie wollten. Stinhurs!ist sicher. Die Geschichte wird nie herauskommen.«
    Webberly nahm die Zigarre aus dem Mund und drückte sie im überquellenden Aschenbecher aus. »Tun Sie das nicht, mein Junge. Das ist doch Unsinn.«
    »Ich lasse mich nicht gern benützen. Da bin ich eigen.«
    Lynley wandte sich zur Tür. »Ich räume jetzt mein Zimmer aus -«
    Webberly donnerte mit der Faust auf den Schreibtisch, daß die Papiere noch mehr durcheinander gerieten. »Ach, und Sie glauben wohl, ich lasse mich gern benützen, Inspector? Vielleicht erklären Sie mir mal, was Sie sich da zusammenphantasiert haben? Welche Rolle haben Sie mir zugedacht?«
    »Sie wußten über Stinhurst Bescheid. Sie kannten die Geschichte seines Bruders. Und seines Vaters. Und darum wurde ich nach Schottland geschickt und nicht ein anderer.«
    »Ich wußte nur das, was man mir sagte. Der Befehl, Sie

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