02 - Keiner werfe den ersten Stein
Junge«, sagte er ruhig. »Das ist das einzige, was Sie noch nicht ganz gemeistert haben.«
Er hörte den gedämpften Ruf, als er aus der Tiefgarage heraus auf den Broadway fuhr. Es war fast dunkel geworden. Er trat auf die Bremse und sah zum Untergrundbahnhof hinüber. Unter den Passanten entdeckte er Jeremy Vinney. Mit wild flatterndem Mantel rannte er den Bürgersteig entlang und schwenkte dabei ein großes Spiralheft in der Hand. Lynley ließ das Wagenfenster herunter, als er herankam.
»Ich habe die Story über Geoffrey Rintoul fertig«, verkündete der Journalist keuchend und grinste befriedigt.
»Das ist wirklich ein Glück, daß ich Sie hier treffe. Ich brauche Sie als Quelle. Ganz inoffiziell. Nur zur Bestätigung. Das ist alles.«
Lynley beobachtete durch das leichte Schneetreiben mehrere Sekretärinnen, die aus dem Yard kamen und lachend zur Untergrundbahn liefen.
»Es gibt keine Story«, sagte er.
Vinneys Miene wurde kalt und mißtrauisch. »Aber Sie haben doch mit Stinhurst gesprochen. Sie können mir nicht weismachen, daß er Ihnen die Geschichte von seinem Bruder nicht bis ins letzte Detail bestätigt hat. Er konnte doch gar nicht leugnen! Wir haben Willingate auf den Fotos von der gerichtlichen Unfalluntersuchung und Joys Stück, in dem die ganze Sache praktisch aufgedeckt wurde. Wollen Sie behaupten, daß er sich da noch rauswinden konnte?«
»Es gibt keine Story, Mr. Vinney, tut mir leid.« Lynley wollte das Fenster hochkurbeln, hielt jedoch inne, als Vinney die Finger um den Rand der Scheibe krallte.
»Sie wollte es!« Sein Ton war flehend. »Joy wollte, daß ich der Geschichte nachgehe, das wissen Sie doch. Sie wissen, das war der einzige Grund, warum ich auf Westerbrae dabei war. Sie wollte, daß alles über die Rintouls ans Licht kommt.«
Der Fall war abgeschlossen. Ihr Mörder war gefunden und verhaftet. Und dennoch war Vinney nicht bereit, von seinem ursprünglichen Vorhaben abzulassen. Dies war keine Gelegenheit für ihn, einen journalistischen Coup zu landen, da die Regierung seinen Bericht ohne Zögern unterdrücken würde. Was, fragte sich Lynley, lag dieser tiefen Loyalität zugrunde, die über den Rahmen des Freundschaftlichen weit hinausging? Warum fühlte sich Vinney Joy Sinclair in solchem Maß verpflichtet?
»Jer! Jerry! Lieber Gott, beeil dich doch. Paulie wartet, und du weißt, er wird völlig aus dem Häuschen geraten, wenn wir wieder zu spät kommen.«
Die Stimme, die von der anderen Straßenseite herüberkam, war quengelig und geziert und hatte etwas sehr Feminines. Lynleys suchender Blick blieb an einem jungen Mann hängen - nicht älter als zwanzig -, der in dem Torbogen zur Untergrundbahn stand und, die Schultern fröstelnd hochgezogen, mit den Füßen stampfte, um die Kälte abzuwehren. Eine der Lampen im Durchgang beleuchtete sein Gesicht von ebenmäßiger Schönheit, so vollkommen in seinen Zügen wie das einer Renaissanceskulptur.
Dies also war des Rätsels Lösung. Lynley konnte kaum verstehen, daß er nicht schon viel früher darauf gekommen war. Joy Sinclair hatte auf ihrem Tonband nicht über Vinney gesprochen; in Gedanken an ihn hatte sie mit ihm gesprochen. Und dort auf der anderen Straßenseite stand der Mann, der Anlaß ihrer Besorgnis gewesen war. »Warum sich seinetwegen in solche Unruhe stürzen? Das ist doch bestimmt keine Verbindung fürs Leben.«
»Jerry! Jemmy!« klang wieder die quengelnde Stimme herüber. Der Junge drehte sich auf dem Absatz um sich selbst wie ein übermütiger Kobold und lachte, als sein Mantel sich im Wind blähte.
Lynley richtete seinen Blick wieder auf den Journalisten. Vinney wandte den Kopf, nicht zu dem Jungen, sondern zur Victoria Street.
»Hat nicht Freud gesagt, daß es keine Zufälle gibt?« Vinneys Stimme klang resigniert. »Unbewußt wollte ich anscheinend, daß Sie es erfahren, damit Sie verstehen können, was ich meinte, als ich sagte, daß Joy und ich immer - und ausschließlich - Freunde waren.«
»Sie wußte es?«
»Ich hatte keine Geheimnisse vor ihr. Ich glaube, das wäre gar nicht möglich gewesen, selbst wenn ich es gewollt hätte.« Demonstrativ drehte Vinney den Kopf und sah zu dem Jungen hinüber. Sein Gesicht wurde weich. Zärtlichkeit spielte um seine Lippen. »Die Liebe ist unser Fluch, ist es nicht so, Inspector? Sie gönnt uns keinen Frieden. Wir suchen sie fortwährend auf tausend verschiedenen Wegen, und wenn wir Glück haben, wird sie uns für einen flüchtigen Moment der Glückseligkeit
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