02 - Keiner werfe den ersten Stein
die Schuhe auszog und ihn mit einer Decke zudeckte. Er erwachte erst am Nachmittag.
»Einen wichtigen Punkt in Hannah Darrows Tagebuch hatte ich übersehen«, sagte Lynley. »Ihre Bemerkung darüber, daß sie bei ihrem zweiten Theaterbesuch ihre Brille vergessen hatte und daher die Schauspieler auf der Bühne gar nicht deutlich erkennen konnte. Sie glaubte nur, Sydeham gehöre zum Ensemble, weil er nach der Vorstellung durch die Bühnentür herauskam. Und ich war wie blind, nachdem ich entdeckt hatte, daß Davies-Jones in Drei Schwestern mitgespielt hatte; die Bedeutung der Tatsache, daß Joanna Ellacourt in der Szene mitspielte, aus der der Abschiedsbrief stammte, sah ich gar nicht. Sydeham kannte natürlich jede Szene, in der Joanna spielte; wahrscheinlich besser als die anderen Schauspieler. Er studierte immer die Texte mit ihr ein. Ich habe es selbst erlebt, wie er im Agincourt mit ihr übte.«
»Wußte Joanna Ellacourt, daß ihr Mann der Mörder war?« fragte St. James.
Lynley schüttelte den Kopf und nahm mit einem Lächeln die Tasse Tee entgegen, die Deborah ihm brachte. Sie waren in St. James' Arbeitszimmer. Durch das Fenster fiel ein letzter Sonnenstrahl, dessen Licht den Schnee draußen auf dem Fenstersims zum Funkeln brachte.
»Mary Agnes Campbell hatte ihr ja - wie allen anderen - erzählt, daß Joy Sinclairs Zimmertür abgeschlossen gewesen war«, sagte er. »Sie glaubte, wie ich, Davies-Jones sei der Mörder. Sie wußte so wenig wie alle anderen, daß Joy Sinclairs Tür nicht die ganze Nacht abgeschlossen gewesen war. Die Wahrheit wissen wir erst jetzt. Von Francesca Gerrard. Sie nämlich hatte erst in der Nacht die Tür abgesperrt. Sie ging etwa um Viertel nach drei zu Joy Sinclair ins Zimmer, um sich ihre Perlenkette zurückzuholen. Als sie sah, daß Joy tot war, glaubte sie, ihr Bruder hätte es getan, und lief in ihr Büro hinunter, um den Zimmerschlüssel zu holen. Sie sperrte das Zimmer ab, um ihren Bruder zu schützen. Ich hätte auf ihre Lüge aufmerksam werden müssen, als sie mir erzählte, sie hätte die Perlen auf der Truhe neben der Tür gefunden. Weshalb hätte Joy Sinclair sie dorthin legen sollen, wenn all ihr anderer Schmuck auf dem Toilettentisch auf der anderen Seite des Zimmers lag, wie ich mit eigenen Augen gesehen hatte.«
St. James nahm sich noch ein Brötchen von der Platte.
»Hätte es etwas geändert, wenn es Macaskin gelungen wäre, dich noch zu erreichen, ehe du gestern nach Hampstead hinausgefahren bist?«
»Was hätte er mir denn sagen können? Doch nur, da!Francesca Gerrard uns beim Verhör auf Westerbrae angelogen hatte, als sie sagte, die Tür sei abgeschlossen gewesen. Ich weiß nicht, ob ich die Einsicht besessen hätte, diese neue Tatsache mit einer Reihe von Fakten zu verknüpfen, die ich bis dahin mehr oder weniger bewußt ignoriert hatte: mit dem Faktum nämlich, daß Robert Gabriel eine Frau in seinem Zimmer hatte; daß Sydeham zugab, daß Joanna in der Nacht, als Joy Sinclair starb, mehrere Stunden nicht mit ihm zusammen war; daß Jo und Joy zwei Namen sind, die man leicht durcheinanderbringen kann, besonders wenn man wie Gabriel praktisch jede Nacht mit einer anderen Frau verbringt.«
»Das war es also, was Irene Sinclair hörte.« St. James setzte sich bequemer in seinem Sessel. »Aber wieso hat sich Joanna Ellacourt überhaupt mit ihm eingelassen? Sie scheint ihn doch gründlich verabscheut zu haben. Oder war das alles nur Getue?«
»Ich denke mir, an dem Abend war ihr Zorn auf Sydeham stärker als ihr Abscheu vor Gabriel. Er hatte sie verpflichtet, in Joy Sinclairs Stück zu spielen. Sie fühlte sich von ihm verraten. Sie wollte ihn verletzen. Aus diesem Grund ist sie um halb zwölf in Gabriels Zimmer gegangen und wartete dort. Sie wollte sich an ihrem Mann auf die Weise rächen, die für ihn am schmerzhaftesten sein mußte. Sie hatte natürlich keine Ahnung, daß sie Sydeham dadurch genau die Gelegenheit gab, auf die er gewartet hatte, seit Joy Sinclair beim Abendessen die Bemerkung über John Darrow gemacht hatte.«
»Hannah Darrow wußte wohl nicht, daß Sydeham verheiratet war?«
Lynley schüttelte den Kopf. »Nein, offensichtlich nicht. Sie hatte Sydeham und Joanna Ellacourt ja auch nur einmal zusammen gesehen, und da waren die beiden in Begleitung eines anderen Mannes. Sie wußte nur, daß Sydeham gute Beziehungen zum Theater hatte, und glaubte, er könne ihr helfen. Für sie war er der Mann, der ihr zu einem neuen aufregenden Leben
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