02 Titan
Cicero und taxierte mich. »Vielleicht kenne ich dich doch nicht so gut, wie ich immer gedacht habe.«
Nachdem Atticus, Terentia und Marcus gegangen waren, waren außer Cicero und mir nur noch seine Leibwächter und ein paar Bedienstete im Haus. Es waren keine Sprechchöre mehr zu hören, die Stadt schien verstummt zu sein. Cicero ging nach oben, und als er wieder herunterkam, trug er feste Schuhe und hielt einen Armleuchter in der Hand. Als wollte er das Haus seinem Gedächtnis einprägen, ging er von Raum zu Raum – durch das riesige, leere Speisezimmer mit der vergoldeten Decke, durch die große Halle mit den Marmorstatuen, die zu schwer waren, um sie zu bewegen, und schließlich in die kahle Bibliothek. Dort verweilte er so lange, dass ich mich schon zu fragen begann, ob er es sich vielleicht anders überlegt hätte. Doch dann, als der Nachtwächter die Mitternachtsstunde ausrief, löschte er die Kerzen und sagte, dass es an der Zeit sei.
Als wir zu der Treppe kamen, die den Palatin hinunterführte, sahen wir unter uns in der mondlosen Nacht mindestens ein Dutzend Fackeln, die sich langsam den Hügel
heraufbewegten. In der Ferne stieß irgendwer einen eigenartigen Vogelschrei aus, der von einem ähnlichen Kreischen dicht hinter uns beantwortet wurde. Ich spürte, wie mein Herz pochte. »Sie kommen«, sagte Cicero leise. »Er verliert keine Zeit.« Wir hasteten die Stufen hinunter und bogen am Fuß des Palatin nach links in eine schmale Gasse ein. Wir hielten uns dicht an den Hauswänden, drückten uns an verrammelten Läden und schlummernden Wohnhäusern vorbei und schlugen einen weiten Bogen, bis wir schließlich in der Nähe der Porta Capena auf die Hauptstraße kamen. Cicero bestach den Wächter, der uns die Fußgängertür öffnete und dann ungeduldig wartete, bis wir uns flüsternd von unseren Leibwächtern verabschiedet hatten. Cicero trat durch die schmale Tür, nach ihm schlüpften ich und drei Sklaven, die sein Gepäck trugen, nach draußen.
Wir gingen mindestens zwei Stunden, ohne ein Wort zu sprechen oder haltzumachen. Dann hatten wir die Monumentalgräber, die zu beiden Seiten die Straße säumten und in jenen Tagen berüchtigte Verstecke für Räuberbanden waren, hinter uns gelassen. Jetzt, entschied Cicero, könnten wir gefahrlos eine Pause einlegen. Er setzte sich auf einen Meilenstein und blickte zurück auf Rom. Ein schwaches rotes Glühen, zu früh, als dass es die aufgehende Sonne hätte sein können, in seinem Zentrum blutrot, zu den Rändern hin in rosafarbene Streifen verlaufend, überzog den Himmel und ließ die Umrisse der niedrigen schwarzen Buckel der hügeligen Stadt hervortreten. Erstaunlich, wie ein einziges brennendes Haus eine derart gewaltige himmlische Erscheinung hervorrufen konnte. Gleichzeitig wehte ein merkwürdiges Geräusch zu uns herüber, ganz schwach in der nächtlichen Stille, schroff und unregelmäßig, ein Ton irgendwo zwischen Heulen und Wimmern. Ich zerbrach mir den Kopf, was das sein könnte. Und dann sagte Cicero, das seien Trompeten, auf dem Marsfeld. Caesars Armee mache sich zum Abmarsch
nach Gallien bereit. Als er das sagte, konnte ich wegen der Dunkelheit sein Gesicht nicht sehen, was vielleicht auch gut war. Im nächsten Augenblick stand er auf, klopfte sich den Staub von seiner alten Tunika und ging weiter, in die entgegengesetzte Richtung von Caesar.
ANMERKUNGEN DES AUTORS
Einige Jahre vor Christi Geburt schrieb Tiro, der Privatsekretär des römischen Redners und Staatsmannes Cicero, eine Biografie über seinen früheren Herrn.
Dass es diesen Tiro gab und er ein solches Werk verfasst hat, ist belegt. »Deine Dienste an mir sind nicht zu zählen«, schrieb Cicero einst an ihn, »im Haus und auf dem Forum, in der Stadt und in der Provinz, bei meinen Studien und literarischen Arbeiten …« Tiro war Ciceros Sklave. Er war drei Jahre jünger als sein Herr, überlebte ihn jedoch bei weitem und wurde – laut Hieronymus – hundert Jahre alt. Tiro war der erste Mensch, der eine Senatsrede im Wortlaut aufgezeichnet hat. Sein unter der Bezeichnung Notae Tironianae bekanntgewordenes Kurzschriftsystem wurde von der Kirche noch im sechsten Jahrhundert benutzt. Einige Reste dieses Systems (das Zeichen &, die Abkürzungen etc. NB, i.e., e.g.) haben bis heute überlebt. Er schrieb auch mehrere Abhandlungen über die Entwicklung der lateinischen Sprache. Tiros mehrbändiges Werk über das Leben Ciceros nennt der Historiker Asconius Pedianus im ersten
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