020 - Die Blutgraefin
lächelte unsicher und kam wieder zu mir. »Es heißt zwar, dass Liebe blind macht, aber wenn es so weitergeht, müssen wir unsere Beziehung abbrechen. Ich weiß ja gar nicht mehr, was ich tue.«
Sie klammerte sich plötzlich wieder an mich. »Ich habe Angst, Alf. Etwas geschieht mit mir. Lass mich heute Nacht nicht allein.«
Ich sah sie besorgt an. »Ich hätte dich auch die letzten Nächte nicht allein lassen sollen. Ich werde ein Doppelzimmer für uns buchen.«
Dann fiel mir ein, was ich mit Madame Ferenczek ausgemacht hatte. Vermutlich würde sie nichts dagegen haben, dass auch Ornella dort übernachtete. Andererseits wollte ich Ornella nichts von den entsetzlichen Dingen erzählen, die ich letzte Nacht in den alten Mauern entdeckt hatte. Sie brauchte Aufmunterung. Das geschah am besten, wenn ich sie aus dem finsteren Hinterhofzimmer herausholte. Im Sonnenschein wurde sie lebendig und fröhlich, das hatte ich schon bemerkt.
Waren in allen diesen alten Häusern düstere Schatten, die sich auf die Seele legten?
Sie kleidete sich an und stellte mich ihrer Vermieterin vor, einer alten Dame, die mich nicht allzu freundlich musterte.
Ich riet Ornella, gleich alles mitzunehmen, was sie für die Nacht brauchte, und versuchte, mich mit der alten Dame zu unterhalten, während sie einpackte. Aber das war nicht leicht.
Ich war froh, als wir endlich aus dem Haus kamen. Wir machten einen Ausflug ins Grüne, und sie verlor während des Nachmittags nach und nach ihre Furcht und Nervosität.
Sie erkundigte sich nach meinem Erfolg in der Bibliothek, und ich berichtete ihr in groben Zügen, was ich über die Blutgräfin gefunden hatte, die grausigen Details wohlweislich verschweigend. Beeindruckt hörte sie mir zu.
»Dann hat also die Erscheinung bei der Seance wirklich etwas damit zu tun?« fragte sie schließlich.
»Es sieht so aus«, sagte ich zustimmend.
Sie schüttelte den Kopf. »Was haben wir gesehen, Alf? Einen Traum? Eine Illusion? Oder die wirkliche Gräfin …?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich achselzuckend.
Sie schwieg und sagte schließlich: »Ich weiß, dass du an übernatürliche Dinge glaubst. Und weißt du, warum ich nicht mehr darüber lache?«
Ich schüttelte verneinend den Kopf.
»Weil ich weiß, dass du nicht leichtgläubig bist. Weil du skeptisch bist und zweifelst – wie ich – und trotzdem etwas fühlst, das du dir nicht erklären kannst. Wie ich.« Sie sah mich an, totenblass. »Was wollte sie von mir, Alf? Warum hat sie mich gefunden? Warum gerade mich?«
Ich nickte. »Diese Frage stelle ich mir auch immer wieder.
Vielleicht einfach nur deshalb, weil du das einzige junge Mädchen unter den Anwesenden warst. Vielleicht sah sie dich als potentielles Opfer.«
Sie schauderte, und ich legte beruhigend meinen Arm um sie.
»Etwas«, murmelte sie, »lockt mich nachts. Ich spüre es deutlich. Ich habe Angst, dass ich eines Nachts irgendwo hingehe, ohne dass ich es weiß, und …«
Sie brach schluchzend ab.
Ich erschrak. Ich begriff, was sie meinte. Aus ihrer spöttischen Ungläubigkeit war ein kindlicher Glaube an Geister geworden. Sie fürchtete, diese lockende Kraft könnte wirklich von jener Erscheinung ausgehen, die während der Seance die Beherrschung über sie gehabt hatte, und sie erneut in ihren Bann ziehen.
Aber ich fürchtete plötzlich mehr. Ornellas Verhalten war seltsam. Konnte es sein, dass sie tatsächlich unter einem hypnotischen Einfluss stand, der sie drängte, lockte? Vielleicht in die Altstadt, in das Haus Madames, zurück an den Ort des ersten Geschehens. Dann war sie in Gefahr – eine willkommene, hilflose Beute für den irren Mörder, der in den Gewölben lauerte.
Es war bereits dunkel, als wir in die Stadt zurückkamen.
Ornella war nicht gerade begeistert davon, dass sie die Nacht in Madame Ferenczeks Haus verbringen sollte, aber ich vermochte sie zu überreden. Was sie vor allem beruhigte, war sicherlich die Tatsache, dass ich bei ihr war.
Wir aßen in einem gemütlichen Restaurant in der Innenstadt, und es war bereits neun vorbei, als wir den Stephansplatz erreichten. Der Verkehr war noch recht lebhaft.
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, warum wir die Nacht hier verbringen müssen«, sagte sie, als wir in der Schulerstraße vor dem Haustor standen. »Weiß Madame davon, dass ich mitkomme?«
»Nein«, sagte ich grinsend, »das weiß sie nicht. Aber ich tue ihr einen Gefallen damit, dass ich heute bei ihr bin. Ich denke, sie wird es in Kauf
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