020 - Die Blutgraefin
geschlossen, und ein Reisebüro versprach mir, die Auskunft in zwei oder drei Tagen zu beschaffen. So wälzte ich dicke Atlanten und Telefonbücher bis tief in die Nacht hinein ohne Ergebnis. Die Zeit bis zum Geschäftsschluss war zu kurz gewesen, um einen historischen Atlas aufzutreiben.
Am Morgen hatte ich einen neuen Gedanken. Ich rief die Nationalbibliothek an. Es war unwahrscheinlich, dass ich Erfolg haben würde, aber ich wollte die Möglichkeit auch nicht auslassen. Diese Zeitschrift mit dem Artikel war kaum ein Jahr alt. Vielleicht konnte ich diesen Dr. Fiegweil ausfindig machen; der würde eine Menge darüber wissen.
Von der Nationalbibliothek erhielt ich die Redaktionsanschrift der Zeitschrift. Mit dieser fütterte ich dann das Fräulein von der Telefonauskunft und erhielt die Nummer.
Tatsächlich bekam ich gleich darauf einen Redakteur an die Strippe. Mit einiger Mühe gelang es mir dann, den recht reservierten Herrn davon zu überzeugen, dass ich wichtige Informationen für diesen Dr. E. Fiegweil hätte, der den Artikel in einer älteren Nummer der Zeitschrift verfasst hatte. Ich rang ihm die Adresse ab. Sie führte mich nach Berndorf, Niederösterreich. Das war nicht weit von Wien, und ich verlor keine Zeit.
Dr. Fiegweil war ein bleicher, dunkelhaariger Mann, der mich stark an Christopher Lee erinnerte, wohl hauptsächlich in den Zügen, denn abgesehen davon wäre er mir als ein sehr schmächtiger Drakula erschienen.
Er war freundlich und hilfsbereit und sehr interessiert an meinen Motiven, die mich nach Csejthe trieben, und ich wusste nicht, wieviel ich ihm berichten sollte. Wie weit konnte ich ihm vertrauen? Er war ein vollkommen Fremder, aber ich brauchte seine Hilfe. So erklärte ich ihm die halbe Wahrheit; dass ich ein Mädchen suchte, das vermutlich aus Csejthe stammte und dorthin verschwunden sei.
»Wann?« fragte er, ohne meine Motive anzuzweifeln, die ihm sicherlich banal erscheinen mussten.
»Vor zwei Tagen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
»Zweieinhalb, um genau zu sein.«
Er hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das könnte passen!« Er sah mich an. »Wie heißt das Mädchen?«
»Rehmer, Ornella Rehmer.« Mir war nicht ganz klar, worauf er hinauswollte, bis er sagte: »Es hängt mit den Morden zusammen, nicht wahr?«
Ich hielt unwillkürlich den Atem an, und er deutete meine Reaktion verdammt richtig. Er nickte. »Ich glaube, wir zwei sind die einzigen, die die wirklichen Zusammenhänge ahnen.
Wenn wir unsere Erfahrungen austauschen, ist es vielleicht nur ein kleiner Schritt zur Wahrheit und zur Gewissheit. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Sie helfen mir. Eine Hand wäscht die andere.«
Er sah mich erwartungsvoll an.
»Sie sind nur neugierig«, sagte ich langsam, »aber ich habe eine Menge zu verlieren …«
»Vielleicht auch zu gewinnen«, widersprach er. »Haben Sie Angst, dass ich zur Polizei gehen könnte? Ah, Herr Clement, ich glaube nicht, dass sie mit unseren Fakten viel anfangen könnte. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Sie haben recht, ich bin außerordentlich neugierig. Sie waren es doch, der das Mädchen aus dem Gewölbe in der Schulerstraße rettete, nicht wahr?«
»Sie ist tot«, erwiderte ich.
Er lehnte sich vor. »Was haben Sie denn da unten gesehen?«
Ich erzählte es ihm. Alles, inklusive meiner Vermutungen und jener Frau Ferenczeks. Als ich fertig war – er hatte mich kein einziges mal unterbrochen, nur manchmal genickt – reichte er mir wortlos eine Zeitung. Es war die Morgenzeitung, und die Schlagzeilen schrieen:
Österreichische Diplomatentöchter in der Slowakei verschollen! Spur verliert sich in Preßburg!
Ich sah ihn fragend an. Er brachte einen Atlas und schlug eine Karte von Osteuropa auf. »Die Grenzen der Slowakei wurden 1918 festgelegt, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Vorher gehörte dieser Teil nördlich der Donau zu Ungarn. Hier, am Fluss Waag, ein Stück südwestlich von Trencin liegt ein Ort, der nun Cachtice heißt. Da aber die Bevölkerung dort noch mehrheitlich ungarisch ist, wird der Ort von den Leuten wohl auch noch heute Csejthe genannt.«
»Sie glauben, dass diese Diplomatentöchter …?« entfuhr es mir.
Er zuckte die Achseln. »Es muss natürlich nicht sein, aber es passt. Sicher verschwinden Leute auf die verschiedenste Weise, aber es könnte auch passen.«
»Was ist mit dem Schloss?« fragte ich. »Steht es noch?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es brannte am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nieder und ist seitdem
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