020 - Die Blutgraefin
hatte die Tasche bereits in der Hand.
Wusste sie überhaupt, dass sie das alte Ding dabeihatte?
Vermutlich nicht.
»Behalten Sie es hier«, sagte ich rasch. »Sie ist vielleicht freier, wenn es verschwunden ist.«
»Und wenn sie es sucht?«
»Dann ist immer noch Zeit, eine Erklärung zu finden. Haben Sie die Tasche vom Blut gesäubert?«
Sie nickte beruhigend. Ich drückte ihr dankbar die Hand.
Dann brachte ich Ornella nach Hause. Sie sollte ihrer Vermieterin erklären, dass sie ein paar Tage aufs Land fuhr und erst Anfang der kommenden Woche zurückkommen wollte.
Dann hieß ich sie die notwendigsten Dinge zusammenpacken, denn wir würden uns für die nächsten Tage ein gemeinsames Hotelzimmer nehmen. So war es am sichersten gewährleistet, dass wir uns nicht aus den Augen verloren.
Ich bekam anstandslos ein Doppelzimmer in dem Hotel, in dem ich wohnte. Wir zogen dort ein. Ich rief den Inspektor an und versuchte zu erfahren, wie lange er mich nun tatsächlich hier festhalten wollte.
»Sehen Sie, Herr Clement«, sagte er beinahe jovial, »vieles an Ihnen gefällt mir und eine ganze Menge nicht. Und bis ich alles aussortiert habe, bleiben Sie hier – oder bis die Kleine im Krankenhaus wieder soweit ist, dass sie Sie entlastet.«
Er blieb unerbittlich. Wir fügten uns alles andere denn erfreut in unser Schicksal.
Den Nachmittag verbrachten wir gemeinsam im Zimmer. Wir hatten eine Menge Schlaf und eine Menge Liebe nachzuholen.
Aber wir kamen kaum dazu, Schlaf nachzuholen. Dazu war in der Nacht noch immer Zeit. Und diesmal würde ich dafür sorgen, dass Ornella keinen Lockungen nachging – wenigstens nicht ohne mich.
Am Abend wollten wir unser Exil feiern mit einem bombastischen Abendessen. Wir waren beinahe fertig angezogen, als ich einen Anruf aus der Hotelhalle erhielt, eine Dame wünschte mich zu sprechen.
»Geh nur voraus«, meinte Ornella. »Ich bin in ein paar Minuten fertig. Wir treffen uns in der Halle.«
Ein wenig zögernd gab ich nach. Sicher konnte ihr hier im Hotel nicht viel geschehen. Es war auch noch zu früh. Sieben vorbei.
Als ich nach unten kam, sah ich niemanden. Ich wandte mich an den Empfangschef. »Riefen Sie mich nicht eben an, weil eine Dame mich sprechen wollte?«
»Ja, Herr Clement …« Er sah sich um. »Sie war gerade noch hier – das ist seltsam.«
Angst schnürte mir die Kehle zu. »Wie sah sie aus? Alt?«
»Ja, Herr Clement. Ziemlich alt, würde ich sagen. Sie sprach gebrochen Deutsch und dürfte eine Ungarin sein, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«
»Ja, danke«, sagte ich benommen. Ich stürzte zum Lift. Er kam eben herab: leer!
Noch nie war mir eine Liftfahrt so langsam vorgekommen.
Ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass die Dame niemand anderer als Darvulia war. Und ich war ihr auf den Leim gekrochen. Ich hatte Ornella allein gelassen.
Die Zimmertür stand offen. Das Zimmer war leer. Ich hastete die Treppen nach unten. Der Empfangschef starrte mir besorgt entgegen. »War sie inzwischen da?« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Und Fräulein Rehmer? Haben Sie sie auch nicht gesehen?« »Es tut mir leid, nein.« »Sie waren die ganze Zeit hier?« »Während Sie hinauffuhren, ja.« »Gibt es einen zweiten Ausgang – eine zweite Treppe?«
»Ja, Herr Clement. Der Lieferanteneingang durch den Hof.«
Ich hastete los. Natürlich, der Hof! Wie hatte ich ihn vergessen können. Vom Fenster unseres Zimmers sah man in den Hof. Verzweiflung ließ mich wie um mein Leben laufen.
Dann stand ich auf dem leeren Hof. Da war eine Tür gegenüber. Ich lief darauf zu, stieß sie auf. Ein Korridor. Ein Haustor. Dann stand ich auf der belebten Straße, im frühabendlichen Menschengewühl. Ich sah mich um wie ein Ertrinkender. Vermutlich wäre eine Stecknadel im Heuhaufen einfacher zu finden gewesen als Ornella und die Alte in dem Gewimmel. Vor Enttäuschung stiegen mir die Tränen in die Augen. Fast vermeinte ich, von irgendwoher das hämische Lachen der alten Hexe zu hören. Ich ballte unbewusst die Fäuste. Es war ein Akt der Hilflosigkeit. Ich hatte Ornella verloren! Und wenn ich sie nicht wieder fand, würde sie wieder morden heute Nacht.
Der Abend war ein Alptraum. Nach und nach wich meine Verzweiflung einer tiefen Resignation. Schließlich wusste ich, ich konnte nur eines tun: erneut eine Nacht bei Madame verbringen und hoffen, dass es wieder in den Gewölben geschah. Aber ich wusste auch, dass die Chance gering war.
Madames Mitgefühl machte es auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher