0216a - Fahrgast im Höllen-Express
nicht mehr. Ich habe ihn vergessen. Das liegt ungefähr fünfzig Jahre zurück.«
»Warten Sie einen Augenblick«, bat ich, während ich zum Telefon griff. Ich rief im Archiv an und fragte den dort diensttuenden Kollegen, ob er je etwas von Fahrten-Louis gehört hätte. Es war ein Kollege, der kurz vor der Pensionierung stand.
»Fahrten-Louis?«, wiederholte er. »Meine Güte, Jerry, lebst du auf dem Mond? Er hat einen so legendären Ruf, dass ihm einige Eisenbahngesellschaften einen Geleitbrief ausgestellt haben.«
»Was für eine Ding?«
»Einen Wisch, den er nur vorzuzeigen braucht, um freie Fahrt auf allen Strecken der ausstellenden Gesellschaften zu haben.«
»Danke«, grinste ich. »Ich ahnte nicht, dass wir einen so berühmten Mann heute sehen würden.«
»Wieso? Hast du etwa Fahrten-Louis gesehen?«
»Ich sehe ihn noch. Er sitzt mir gegenüber in unserem Office.«
»Ich komme runter!«, rief der Kollege. »Das lasse ich mir nicht entgehen.«
Er hatte den Hörer schon aufgelegt, bevor ich etwas erwidern konnte. Nachdenklich ließ auch ich den Hörer sinken.
Fahrten-Louis hatte sich derweil von Phils Zigaretten bedient und rauchte genießerisch, wobei er die Beine weit von sich streckte und die gefurchten, narbenbedeckten Hände auf seinem Bauch gefaltet hatte.
»Tut mir leid, Louis«, sagte ich. »Tut mir leid, dass ich noch nie von Ihnen gehört hatte. Dabei müssen Sie wirklich eine Berühmtheit sein.«
Er zuckte nur die Achseln.
»Jetzt wollen wir mal zu dem Thema kommen, das uns am meisten interessiert. Sie erwähnten den Namen Snucky Barnes. Was ist mit ihm?«
»Ich traf ihn gestern Nacht.«
»Wo?«
»In den Bergen von Kentucky. Es war in der Nacht, ich saß in einem Bremserhäuschen und döste vor mich hin, als plötzlich die Tür aufging und ein Kerl hereingeklettert kam, von dem ich auf den ersten Blick sah, dass er nicht zu uns gehörte.«
»Zu wem?«, fragte Phil.
»Zu uns, zu den Tramps. Dafür habe ich eine Nase. Ich sehe sofort, warum einer auf einen Zug springt, ob das nun ein richtiger Kumpel ist oder bloß einer, der zu Hause durchgebrannt ist und in die nächste Stadt will.«
»Wie sah der Mann aus, der zu Ihnen ins Bremserhäuschen kam?«
»Als er reinkam, war es dunkel. Ich dachte erst, es wäre einer von der Eisenbahn. Deshalb knipste ich die kleine Lampe im Bremserhäuschen an, damit er mich sehen könnte. Die meisten Burschen bei der Eisenbahn kennen mich nämlich oder haben von mir gehört. Es gibt kaum noch einen, der mich auf der nächsten Station dem Sheriff übergibt. Im Gegenteil. Die meisten teilen Brot und Kaffee mit mir. Sind alles nette Jungs, die Burschen bei den Eisenbahngesellschaften.«
»Kommen Sie zurück zu Snucky Barnes, Louis!«
»Ach ja, natürlich. Also, ich schaltete das Licht ein und sah, dass der Bursche nicht zur Eisenbahn gehörte. Er hatte einen Bart, der höchstens drei Tage alt war. Und außerdem zog er plötzlich ein Schießeisen aus der Hosentasche. Ich machte ihm klar, dass er nicht verrückt spielen sollte. Ich wäre ein Tramp, und ich wollte nichts weiter, als meine Ruhe haben und ein bisschen durch die Gegend fahren. Er war sehr misstrauisch, aber schließlich kam er wohl auf den Gedanken, dass ein alter Mann wie ich ihm nichts tun könnte. Und nach einer Weile unterhielt er sich sogar mit mir.«
»Über was?«
»Weil ich spürte, dass er ein Gangster war, hütete ich mich, ihn etwas zu fragen. Das mögen Gangster nämlich nicht. Sie denken immer gleich, man will sie aushorchen. Aber der Kerl in meinem Bremserhäuschen kam nach und nach von allein mit der Sprache raus. Er muss in den letzten Tagen sehr einsam gewesen sein, sodass er heilfroh war, mal mit ’nem Menschen zu reden.«
»Das kann ich ihm nachfühlen«, sagte ich. »Snucky Barnes dürfte ungefähr seit drei Wochen mit keinem Menschen mehr gesprochen haben.«
»Was erzählte er?«, fragte Phil.
»Unbedeutendes Zeug. Meistens über Baseball. Muss ein Baseball-Fan sein.«
»Das ist er. Deshalb werden ja in den letzten Wochen alle wichtigen Baseballspiele von uns kontrolliert. Wir hofften, Barnes würde einmal bei einem Spiel auftauchen.«
»Der Bursche ist vorsichtig wie ein junges Reh.«
»Wo steckt er jetzt?«
»Irgendwo drüben in Jersey City. Er hat dort etwas zu erledigen. Wenn ich seine Andeutungen richtig verstanden habe, hängt es mit einem Mädchen zusammen. Einem Mädchen namens Mabel. Aber mehr weiß ich auch nicht.«
***
Mit leise summendem Motor
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