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0219 - Acht Kugeln für das dritte Opfer

0219 - Acht Kugeln für das dritte Opfer

Titel: 0219 - Acht Kugeln für das dritte Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Acht Kugeln für das dritte Opfer
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die Stirn gezogenen schwarzen Hut stand im Lichtkegel der Taschenlampe, keine vier Schritte von Lidders entfernt.
    Der Mann blinzelte in das grelle Licht, das so plötzlich vor ihm aufgeflammt war. Er zuckte die Achseln und wischte sich mit der rechten Hand das Regenwasser aus dem Gesicht.
    »Ich bin spazierengegangen«, sagte er mit einer sanften Stimme. »Ich gehe gern im Regen spazieren. Da war es mir, als hätte ich hier draußen einen Schrei gehört. Ich wollte nachsehen. Aber ich habe nichts gefunden. Vielleicht war es der Schrei eines Vogels.«
    Mißtrauisch trat Lidders zwei Schritte vor. Er ließ weder Taschenlampe noch Pistole sinken. Der Kerl ist jünger als ich, dachte er. Und er hat ein sehr ausgeprägtes Kinn. Scheint energisch zu sein. Ich werde mich hüten, mich von so einem Burschen hereinlegen zu lassen. Aber das Märchen mit dem Spazierengehen soll er seiner Großmutter erzählen. Vielleicht glaubt die's…
    »Haben Sie einen Ausweis bei sich? Den Führerschein oder so was?« fragte Harry Lidders.
    »Nein, Officer« erwiderte der Mann. Seine Augen mußten sich inzwischen an das Licht gewöht haben, weil er jetzt erkannte, daß er einen Polizisten vor sich hatte. »Nein, tut mir leid.«
    Er klappte den Mantelkragen herunter und öffnete den Mantel am Halsausschnitt ein wenig. Über dem schwarzen Rand des bis an den Hals hinauf zugeknöpften Jacketts wurde ein steifer weißer Kragen sichtbar. Erleichtert schob Lidders seine Pistole zurück in die Ledertasche am Gürtel.
    »Entschuldigen Sie, Hochwürden«, sagte er. »Aber bei diesem Wetter und hier draußen auf so einem Pier muß man als Polizist vorsichtig sein. Es treibt sich immer allerlei Gesindel herum…«
    »Natürlich, Officer«, sagte der Priester. »Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Haben Sie auch einen Schrei gehört?«
    »Ja«, brummte der Polizist, »Mir war auch so, als hätte hier draußen jemand geschrien. Vielleicht sollte ich doch lieber den Pier einmal abgehen.«
    »Das wird wohl nicht nötig sein«, meinte der Priester. »Wenn etwas wäre, hätte ich es finden müssen. Aber ich will Sie natürlich nicht daran hindern, Ihre Pflicht zu tun. Vielleicht darf ich Sie begleiten?«
    »Gern, Hochwürden«, sagte Lidders. Es war ihm wirklich recht, daß er in dieser Finsternis nicht ganz allein hier herumzusuchen brauchte. Und so machte er sich denn zusammen mit dem Priester auf die Suche.
    Der Wind heulte weiter in den Takelagen der vertäuten Schiffe. Er peitschte weiter die Wasser des Hudson auf und warf ihre Wellen klatschend gegen die Kaimauern. Er trieb den eisigen Schneeregen vor sich her und heulte in den stählernen Gerüsten der Kräne. Es gab nur einen Ort, wo er nicht hinreicbte: auf den Grund des Hudson River. Hier war alles ruhig und still. Ruhig und still wie der Tod.
    ***
    Auf dem großen Fünfeck, das im Norden von der Madison, im Osten von der Catherine Street, im Süden von der South Street am East River und im Westen schließlich von der Robert F. Wagner und der St. James Plaza begrenzt wird, stehen die großen Blocks, die man nach einem Gouverneur — die Gouverneur Alfred E. Smith Houses — nennt. Im südöstlichsten Block bewohnte seinerzeit Tom B. Crack eine hübsche Vierzimmerwohnung. Als Personalchef der Stone & Webster Company konnte er sich das erlauben.
    Es war an einem strahlenden Maitag des Jahres 1960. Florence Crack, eine leicht zur Fülle neigende Dame Anfang Vierzig, hatte es sich im Liegestuhl auf dem Balkon bequem gemacht. Ihr Mann würde nicht vor halb sechs nach Hause kommen, denn in der knappen Mittagspause von nur dreißig Minuten aß er wie alle anderen in der Kantine, so daß Florence erst am späten Nachmittag mit der Zubereitung der Hauptmahlzeit zu beginnen hatte.
    Florence Crack stammte aus Nervi an der Riviera die Levante. Sie hatte ihren Mann im letzten Krieg kennengelernt. Er war als amerikanischer Leutnant nach Nervi gekommen, verwundet und nach zwei Jahren Kämpfen auf alle Arten von Heldentum nicht mehr erpicht. Dafür hatte er sich um so ausgiebiger für Land und Leute interessiert, namentlich für Italiens Weiblichkeit. Florence hatte ihn bei einem Ball kennengelernt, den das PRO arangiert hatte. Tom Crack war genau das gewesen, was man sich in Italien und wohl in ganz Europa unter einem jungen Amerikaner vorstellte: kerngesund (von seiner Armverwundung abgesehen), strahlend, schlacksig, unbekümmert und optimistisch, trotz der Kriegsjahre, die hinter ihm lagen. Florence

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