0220 - Die Stunde der Ghouls
keine Touristenherden mit klickenden Kameras darüber hinweggetrieben werden und wenn Dämmerung und Dunkelheit den Fragmenten glanzvoller Epochen eine zauberhafte Verklärung geben. Dann erst erwacht die Fantasie. Dann entsteht die Vergangenheit neu.
Vor dem geistigen Auge ziehen kahlköpfige Priester in blendend, weißen Gewändern einher. Ihren Kehlen entströmen eigenartige Gesänge. Weihrauch wogt auf und Lippen murmeln Gebete zu den Göttern.
Ehe sich Tina Berner versah, hatte Michael Ullich ihre Hand ergriffen und sie über den Zaun gezogen. Die beginnende Dunkelheit ließ die Gestalten der beiden jungen Menschen mit den himmelanragenden Säulen im großen Vorhof in der aufkommenden Dämmerung verschmelzen.
Wie selbstverständlich hielt Michael Ullich Tinas Hand. Ohne etwas zu sagen ließ es das Mädchen geschehen. Und dennoch war ihr ganzes Inneres in Aufruhr. Denn nie, noch nie, war sie mit einem Jungen so nah zusammengewesen. Und noch nie in einer so einsamen, bedrückenden Atmosphäre.
Langsam durchschritten sie Hand in Hand den Tempel.
»Dieser Tempel war dem Gott Amun und der Himmelsgöttin Mut geweiht«, erklärte der blonde Junge halblaut. »Außerdem wurde noch Chons, der Gott der Weisheit, hier hoch verehrt. Aber auch andere Götter hatten hier ihre Altäre…«
Christina Berner hörte kaum hin. Aus den Augenwinkeln sah sie Michaels offenes Gesicht. Wie er lachen konnte! Und wie die blauen Augen dann sprühten! Genau wie Mark Hamill, der Luke Skywalker aus dem »Krieg der Sterne«! Aber irgendwie verblaßte das Bild des über alles geliebten Schauspielers. Hier neben ihr, das war der wahre Luke Skywalker! Und sie war nicht länger ein Jedi-Ritter. Nein, sie war eine Frau. Ein Mädchen.
Prinzessin Leia Organa…
War das, was sie jetzt empfand - war das Liebe?
»… wurde über Generationen an diesem Tempel gebaut«, hörte sie wieder Michaels Stimme. »Den Beginn machte Amenophis III, der Vater des Echnaton, der dann für eine kurze Zeit im ganzen Reich Ägypten nur die Sonne, den Gott Aton, anbeten ließ. Auch Tut ench Amun und der große Ramses haben hier bauen lassen und…«
Michael Ullich hatte den Arm um sie gelegt. Und Tina Berner schmiegte sich ganz dicht an ihn. War es ein unbewußtes Schutzsuchen vor der Dunkelheit? Oder war es die Bemühung, diesem Jungen nahe zu sein, der letzte Nacht für sie gekämpft hatte wie ein Löwe, der für ein Mädchen, das er doch gar nicht kannte, sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
Michael Ullich verhielt seinen Schritt vor einer Statue, die den Leib eines Menschen mit dem Kopf einer Katze hatte.
»Schau!« machte er Christina aufmerksam. »Die Göttin Bastet. Die ägyptische Göttin der Liebe.«
Blicke trafen sich. Und in beiden lag eine stumme Frage. Tina schien innerlich zu beben. Liebe? War es wirklich das, was die Menschen als Liebe bezeichneten?
Michael Ullich neigte sich zu ihr herunter. Und dann küßte er sie…
***
Schattenhafte Gestalten hetzten durch die Nacht.
Das Rudel des Bösen trabte durch die Wüste, die nackt und ohne Leben vor ihm lag. Nur hin und wieder war der heisere Schrei eines Nachtvogels zu hören. Aus den nahen Bergen heulte ein einsamer Schakal zur Silbersichel des Mondes hinauf.
Niemand sperrte den Leichenfressern den Weg.
Denn das Abenteuer der letzten Nacht hatte sich unter der einheimischen Bevölkerung herumgesprochen. Niemand zweifelte daran, daß der Schrecken der Nacht heute wieder wandeln würde.
In der ganzen Stadt Luxor waren die Häuser verbarrikadiert. Die Fenster der gelblichen Lehmhäuser waren zusätzlich durch Bretter gesichert, die Türen von Innen mit Stützbalken verrammelt. Und niemand, dem Allah nicht den Kopf mit Nilschlamm gefüllt hatte, würde sich heute nach Einbruch der Dämmerung auf die Straße wagen.
Nur die großen Hotels am Nil, das »Savoy« und das »Winter-Palace«, pfiffen auf das, was in den Kreisen der Einheimischen gemunkelt wurde. Hier war man weltoffen. Hier dachte man modern. Was sollten die Touristen denken?
Streng wiesen die Direktoren und Manager der beiden Hotels ihr Personal an, nichts von den Befürchtungen durchsickern zu lassen. Das war sicherlich genauso eine Erfindung wie der legendäre Fluch des Pharao.
Vereinzelt hatten sich schon Gäste, irritiert durch die Vorgänge im Ort, nach der Ursache erkundigt. Die Kellner und Pagen murmelten etwas von »Ramadan«. Das beruhigte die Frager. Kaum einer achtete darauf, daß gar nicht die Zeit des Fastenmonats
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