023 - Im Zeichen des Boesen
auf die Brust und ließ sich vornüber durch die zerbrochene Scheibe in den Raum rollen. Nach all den Strapazen empfand er den schmerzhaften Aufprall nunmehr als Erleichterung.
Er schüttelte die Glassplitter ab und sah sich in seiner neuen Umgebung um.
Sein Blick wurde von einer einzigen Erscheinung gebannt.
Vor ihm saß die Gräfin Anastasia von Lethian in einem reich verzierten, thronartigen Holzstuhl. Aber sie war jetzt nicht mehr die faszinierende, wunderschöne Hexe, auch keine rachelüsterne Furie - sondern eine vertrocknete, runzlige Alte.
Sie sagte mit brüchiger Stimme: »Hab keine Angst, Dorian. Lauf nicht davon! Ich möchte nur mit dir sprechen.«
So seltsam es klang, Dorian verspürte so etwas wie Mitleid mit ihr, obwohl sie es nicht verdiente. Wie viele Menschen mochte sie schon auf dem Gewissen haben?
Aber jetzt, in diesem Augenblick, war sie nichts weiter als ein hilfloses Bündel Mensch.
Ein Mensch? Nein! Dorian durfte sich nicht täuschen lassen. Sie war eine Hexe. Kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern ein Dämon. Daran mußte er immer denken, was auch geschah.
»Warum haßt du mich?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Warum verleugnest du mich, die ich dir das Leben geschenkt habe?«
»Nein!« schrie Dorian. »Du hast mich nicht erschaffen. Ich bin ein Mensch, hast du das noch nicht erkannt?«
»Ich habe nur gemerkt, daß du vom rechten Weg abgekommen bist«, entgegnete die Hexe. »Ich weiß nicht, warum du mißraten bist, aber ich bin überzeugt, daß es noch nicht zu spät für dich ist, in unseren Kreis zurückzukehren. Du bist immer noch einer von uns, Dorian. Und wenn du das einsiehst, wenn du dich reumütig zu uns bekennst, dann wird man dich anerkennen. Selbst deine Brüder, sosehr sie dich im Augenblick auch hassen, werden ihre Einstellung zu dir ändern. Du mußt nur wollen.«
»Was du als meine Brüder bezeichnest, sind in Wirklichkeit Ungeheuer, vor denen ich die größte Abscheu empfinde!« rief Dorian hitzig. »Mir ekelt vor den Vorgängen in diesem alten Schloß.
Wenn sich mir die Gelegenheit böte, würde ich alle meine sogenannten Brüder töten, um sie von ihrem widernatürlichen Dasein zu erlösen.«
»Du sprichst wie ein Knecht der Inquisition«, stellte die Gräfin bekümmert fest.
Er ballte die Hand zur Faust. »Ich möchte nur diese heutige Nacht überleben. Vielleicht werde ich dann zum Dämonenkiller, der euch Satansbrut ein für allemal ausrottet.«
»Deine bitteren Worte zeigen deutlich, daß du verblendet bist«, sagte die Hexe ruhig. »Du würdest anders über den Schwarzen Kreis denken, wenn du uns erst besser kennen würdest. Wir sind keine Menschen, wir sind aber auch keine Ungeheuer. Wir sind – eben anders. Die Menschen sind unsere Feinde. Sie versuchen seit undenklichen Zeiten, uns auszurotten. Wir müssen so sein, wie wir sind, um zu überleben. Und du bist einer von uns, Dorian. Du hast es nur noch nicht erkannt.«
»Ich würde es spüren, wenn ich einer von euch wäre«, erklärte Dorian. »Müßte ich mich dann nicht zu euch hingezogen fühlen? Aber es ist nicht so. Im Gegenteil, ich hasse euch. Und selbst wenn es stimmen sollte, daß du mich mit dem Teufel gezeugt hast, daß Dämonenblut in meinen Adern fließt, so kann es doch sein, daß mich das Leben unter den Menschen gewandelt hat. Oder etwa nicht?« »Das versuche ich dir doch gerade zu erklären«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang ein hoffnungsvoller Unterton mit.
»Du bist verblendet, aber du könntest zu uns zurückfinden.«
»Unmöglich!«
Sie richtete sich auf und blickte ihm in die Augen. Ihm schien, als sei sie in der Zeit, die er mit ihr beisammen war, noch mehr gealtert.
»Weißt du, daß ich sterben muß, wenn du mich verleugnest?« fragte sie flüsternd. »Ich kann nichts dagegen tun. Es ist ein Naturgesetz. Ich habe dir das Leben geschenkt und muß deshalb dafür büßen, wenn du abtrünnig wirst und dich den Menschen anschließt. Sieh mir ins Gesicht! Merkst du, wie das Leben aus mir weicht? Daran – daß ich sterbe – sollst du erkennen, daß du
ein Geschöpf bist, das ich gezeugt habe. Wäre dem nicht so, würde ich nicht dieses Ende finden.«
Dorian lachte auf. »Warum sollte ich dir helfen? Dein Tod ist doch genau das, was ich will.«
In das Gesicht der Hexe hatten sich tiefe Falten gegraben, und das Fleisch fiel langsam in sich zusammen.
Die Backenknochen traten immer stärker hervor. Die Augen, ehemals in einem unstillbaren Feuer
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