023 - Im Zeichen des Boesen
den Schmerz zu mildern, der bis ins Gehirn vordrang.
Vor der Öffnung lauerten die gespenstischen Bestien. Sie spürte ihren heißen Atem schon in ihrem Nacken. »Oh, du mein Gott – hilf mir!«
Sie schluchzte erleichtert, als das Zerren an ihren Haaren plötzlich nachließ. Aber da tasteten sich schon neue Hände zu ihr herein, zogen an ihren Ohren und zerkratzten ihr Gesicht. Scharfe Nägel bohrten sich in ihr Fleisch, brachten ihr blutende Wunden bei.
Jemand schrie markerschütternd. Der Schrei war unwirklich, klang hohl und wie aus weiter Ferne und war gleichzeitig überall in Lilians Körper; er pflanzte sich vibrierend bis zu ihren Zehenspitzen fort. Und da erst merkte sie, daß sie es war, die schrie.
Sie konnte nicht mehr damit aufhören. Sie brauchte nicht mehr Atem zu schöpfen. Ihr Schrei war endlos.
Langsam glitt ihr Kopf durch die Öffnung hinaus ins Freie. Sie starrte aus weit geöffneten Augen zu Fratzen auf, die geifernd zu ihr hinunterblickten. Laute, wie sie sie noch nie gehört hatte, drangen an ihr Ohr; Laute, die sie auch nicht mit ihrem Schrei übertönen konnte.
Sie wurde aufgerichtet und gegen eine Wand gelehnt, aber ihre Beine besaßen keine Kraft. Sie rutschte langsam an der Wand zu Boden.
Und die unheimlichen Gestalten kamen näher. Eine Hand fuhr ihr in den Mund und zog ihr die Unterlippe nach unten, eine andere umfaßte ihre Brust und drückte sie, als wollte sie sie zerquetschen. Hände griffen ihr in den Nacken und bogen ihr den Kopf zur Seite, und ein Schatten beugte sich über ihren gespannten Hals.
Lilian saß nun ganz ruhig da. Sie ließ alles mit sich geschehen. Sie hatte kein Interesse mehr an den Vorgängen um sich.
Die Ungeheuer konnten ihr keine Furcht mehr einflößen. Ihr Empfinden war abgestumpft. Das Nervensystem ihres Körpers sandte keine Impulse mehr an das Gehirn. Wenn die Klauen ihre Haut berührten, dann bildete sich keine Gänsehaut mehr. Sie verspürte weder Ekel noch Abscheu. Ihr Geist war zerrüttet. Sie war aus dem schrecklichen Traum erwacht.
Dorian? Wo war Dorian? Hatte sie ihn früher nicht immer Rian genannt? Sie lächelte. Jetzt kam ihr dieser Kosename kindisch vor. Sie kicherte.
Wo Dorian nur sein mochte? Warum ließ er sie mit so vielen fremden Leuten allein? Was wollten die Männer und Frauen von ihr, die so seltsam dreinschauten – so erwartungsvoll und doch irgendwie enttäuscht?
Stießen sie sich daran, daß sie fast nackt war? Ja, sie war nicht schicklich gekleidet.
Sie zog, so gut es ging, die Fetzen ihres Nachthemdes vor ihre Blößen. Sie mußte sich züchtig geben, durfte sich vor diesen Fremden nicht gehenlassen, sonst glaubten sie noch, sie sei eine Dirne. Nein, sie wollte nicht, daß man schlecht von ihr dachte.
Sie erhob sich langsam und stand dann da, die fremden Männer und Frauen taxierend.
»Warum weicht ihr vor mir zurück?« fragte sie verwundert. »Gefalle ich euch nicht?«
Sie machte einen Schritt nach vorn. Die Fremden wichen noch weiter zurück.
Lilian hob erschrocken die Hände.
»Bleibt hier! Bitte, lauft nicht vor mir davon, meine Freunde!«
Tränen traten ihr in die Augen, als sie merkte, daß die Fremden trotz ihrer Bitten, sie nicht zu verlassen, zu den beiden Ausgängen strömten.
»Seht her, habe ich nicht einen schönen Körper?«
Sie hatte sich das Nachthemd heruntergerissen und stand nun nackt da, die Arme ausgebreitet. Aber auch das half nichts. Ihre Freunde flüchteten.
»Wartet auf mich! Nehmt mich mit!«
Lilian folgte den Fremden, die sie sofort ins Herz geschlossen hatte, leichtfüßig und federnden Schrittes. Aber sie konnte sie nicht einholen.
»Hoffentlich finde ich sie wieder«, sagte sie laut zu sich selbst und unterdrückte ein Schluchzen.
Vukujev umrundete das Schloß zweimal, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Als er zum Hauptportal zurückkam, war er überzeugt, daß sich die Gräfin geirrt hatte.
Vielleicht hatte das Unwetter sie verängstigt. Donner und Blitz konnten die Phantasie einer alten Dame schon zu den wildesten Vorstellungen verleiten. Vukujev kicherte. Na, das Unwetter war vorbei. Er blickte zum Vollmond auf. Die Wolken boten ein faszinierendes Schauspiel. Es ging noch ein ziemlich heftiger Wind, und er pfiff wahrscheinlich gespenstisch durch das alte Gemäuer des Schlosses, aber das war kein Grund zur Aufregung. Die Gräfin mußte sich schon längst daran gewöhnt haben, daß es in allen Winkeln ihres Schlosses raunte und wisperte.
Hoffentlich war
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