023 - Im Zeichen des Boesen
lodernd, lagen nun stumpf und trübe tief in den Höhlen; die schlaffen Lider zuckten. Die Lippen waren blutleer. Als sie den Mund öffnete, fielen einige Zähne heraus. Ihr Hals wurde immer dünner, die Sehnen und der Adamsapfel traten wie Schnüre und ein Knoten hervor. An ihrer Schläfe pulsierte schwach eine Ader.
Als sie sprach, war es nicht mehr als ein vernehmliches Atemholen. Dorian mußte ihr ganz nahe kommen, um ihre Worte verstehen zu können.
»Ich habe noch nie im Leben um etwas gebeten. Und ich werde … werde es auch jetzt nicht tun. Ich sehe, daß ich dich nicht umstimmen kann, also finde ich mich mit meinem Schicksal ab. Aber wisse, Dorian, wenn ich sterbe, dann kann ich dir keinen Schutz mehr bieten. Du bist dann vogelfrei. Die anderen werden sich auf dich stürzen.«
»Du hast mich beschützt?« fragte Dorian ungläubig. Die Hexe nickte schwach.
»Deine Brüder sollten dir nur zeigen, was Abtrünnigen widerfährt. Aber wenn ich nicht mehr bin, werden sie Ernst machen. Sie werden dir die Verantwortung für meinen Tod geben und Rache an dir nehmen. Ich kann nichts mehr für dich tun – nur noch …«
»Was?« Dorian packte die Hexe an den mageren Schultern und schüttelte sie. Ihr Kopf pendelte kraftlos hin und her. »Was wolltest du noch sagen?«
Die Hexe machte eine fahrige Handbewegung. »Schau die Bilder an, Dorian!«
Das Zimmer um ihn versank. Er fand sich plötzlich in der Familiengruft wieder. Alle Grabdeckel waren geöffnet. Die Vampire hatten ihre engen Behausungen verlassen und geisterten durch den Raum. Ihre blassen, häßlichen Fratzen mit den aufgerissenen Mäulern, aus denen die langen Eckzähne herausragten, jagten ihm einen Schauer über den Rücken.
Es schien, als ob sie nicht wüßten, wohin sie sich wenden sollten, aber in Wirklichkeit hatten sie alle ein bestimmtes Ziel. Sie scharten sich um eine Gruft, deren Deckel schon halb geöffnet war. Auf der Steinplatte stand: Ambrosius von Lethian.
Es war jene Gruft, in der er Lilian untergebracht hatte. Die Vampire griffen jetzt mit ihren Klauen in den Spalt und versuchten, ihr Opfer zu packen.
»Lilian!«
Das Bild zerrann. Dorian befand sich wieder in dem Zimmer mit der Hexe. Sie lag still in ihrem Sessel. Ihr Gesicht wirkte wie mumifiziert.
Sie war tot.
Sie erwachte aus einem langen, tiefen Schlaf. Als sie sich herumdrehen wollte, stieß sie auf einen kalten, harten Widerstand. Sie riß in panischem Entsetzen die Augen auf und tastete ängstlich um sich.
Sie war lebendig begraben!
Lilian schrie.
Und wie ein vielfältig verzerrtes Echo drangen schaurige Laute als Antwort zu ihr herein.
Sie drehte den Kopf herum und sah vor sich einen schmalen Spalt, durch den ein schwacher Lichtschein fiel. Dahinter waren Schatten. Einer dieser Schatten griff jetzt in ihr Gefängnis. Es war eine knochige Hand mit langen, schwarzen Fingernägeln. Krallen!
Lilian schrie wieder und schlug in ihrer Angst mit ihrer kleinen Faust auf die Krallenhand. Die Hand zog sich zurück, doch die Steinplatte glitt weiter auf. Dahinter lauerte eine Teufelsfratze. Kleine, glühende Augen starrten sie aus schwarzen Löchern an. Blutleere Lippen öffneten sich geifernd und entblößten faule Zähne. Das Maul preßte sich gegen die immer größer werdende Öffnung, und ein furchtbarer Gestank nach Fäulnis und Verwesung schlug Lilian entgegen.
Ihr Magen rebellierte, als der stinkende, heiße Atem sie traf. Ein Glucksen kam aus ihrer Kehle - dann löste sich der befreiende Schrei.
Sie träumte nur. Das konnte nur ein Traum sein. Gleich würde sie erwachen. Dorian, wecke mich! Bitte, bitte, rüttle mich wach!
Aber die erlösende Berührung blieb aus; die sanften, beruhigenden Worte blieben unausgesprochen. Und der furchtbare Traum ging weiter.
Lilian drängte sich tiefer in ihr Gefängnis, kauerte sich zusammen, um sich ganz klein zu machen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich die knöcherne Hand zu ihr hintastete. Jetzt berührte sie ihr Haar. Angeekelt senkte sie den Kopf tiefer auf die Brust.
Aber die Knochenhand wurde immer länger. Die Finger erzeugten ein knisterndes Geräusch und krallten sich dann an ihr fest. Sie zerrten an ihren Haaren, und Lilian durchzuckte ein Schmerz, als ob tausend Nadeln ihre Kopfhaut durchbohren würden. Die Hand des furchtbaren Ungeheuers zog sie zu sich. Lilian stemmte sich mit den Händen gegen die Seitenwand, aber sie hatte nicht die Kraft, sich dem kräftigen Zug zu widersetzen; sie mußte nachgeben, um
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