0252 - Die Tochter des Totengräbers
mußte gleich auftauchen, und richtig, die erste Hälfte der Treppe hatte sie rasch überwunden, so daß sie jetzt in das Blickfeld des wartenden Ehepaares geriet.
»Die ist ja viel zu dünn angezogen«, beschwerte sich Thelma Price. »Und das bei dieser Kälte.«
»Als ob es darauf ankäme«, erwiderte Jason rauh.
In der Tat trug das etwa 20jährige Mädchen nur ein rosafarbenes Kleid. Es war mehr als Kostüm geschnitten und bestand aus einem weit schwingenden und bis zum Boden reichenden Rock sowie einem Oberteil, das am Kragen eine weiße Borte aufwies. Marions Haar war lang und rötlichblond. In der rechten Hand hielt sie eine alte Petroleumlampe, deren Flammen durch einen Glasaufsatz vor dem Wind geschützt war und deshalb nicht ausgeblasen werden konnte.
Marion Price nahm die letzte Stufe, blieb für einen Moment auf der eisernen Abtretmatte stehen und schien zu überlegen, ob sie weitergehen sollte oder nicht.
»Komm zurück!« flüsterte ihre Mutter oben im Zimmer. »Kind, komm, da hast du nichts zu suchen…«
Als hätte Marion die Worte gehört, wandte sie den Kopf und schaute an der Hausfront hoch.
Der Mann und die Frau traten zurück. Sie wollten nicht unbedingt gesehen werden. Marion blickte auch nicht lange. Sie gab sich einen Ruck und ging jetzt den schmalen Weg hinab, der hinunter zum Friedhof führte.
Obwohl sie sich nicht sehr beeilte, setzte sie ihre Schritte zielstrebig voran. Sie hatte überhaupt keine Angst, der Grabstätte entgegenzugehen, denn das tat sie fast jede Nacht.
»Willst du nicht hinterher?« fragte Thelma, während sie ihre Tochter beobachtete.
Jason Price hob die Schultern. »Ich weiß nicht so recht. Irgendwie komme ich mir wie ein Schuft vor, wenn ich meine eigene Tochter so beobachte.«
»Aber es geht doch um sie. Um ihr Bestes. Wir meinen es nur gut.« Thelma sprach drängend, und sie hatte mit ihren Worten bei Jason einen wunden Punkt berührt.
Ja, er machte sich auch große Sorgen um seine Tochter. Was sie da fast jede Nacht tat, war in seinen Augen nicht normal. Welches junge Mädchen schlich sich schon klammheimlich aus dem Haus, um einen Friedhof zu besuchen?
Einen Freund, ja, das wäre zu verstehen gewesen, aber bei Marion gab es in dieser Richtung keinen Grund. Sie besuchte nur die alten Gräber und hockte dort fast eine Stunde.
»Geh ihr doch nach!« forderte Thelma.
Jason Price nickte entschlossen. »Okay«, sagte er, »ich tue es. Man muß ja schauen, was seine Tochter in der Nacht so treibt.« Er grinste, als er das sagte, wandte sich um und knipste die kleine Nachttischleuchte an.
Price trug nie einen Schlafanzug, immer ein altes, weit geschnittenes Nachthemd, das er sich über den Kopf streifte. Völlig nackt war er nicht. Noch immer trug er seine graue, bis fast zu den Knien reichende Unterhose.
Thelma schaute ihn an. Jason war alt geworden. Sein Haar hatte eine grauweiße Farbe angenommen. Es hing in Strähnen über die Ohren. Die Haut im Gesicht zeigte Furchen, seine Bauchdecke hing schlaff über den Bund der Unterhose.
Price zog sein Hemd über, stieg in die alte graue Hose und nahm vom Haken der Tür seine Jacke ab.
»Ich gehe jetzt«, sagte er.
Thelma war am Fenster stehengeblieben. »Willst du nicht noch deine Pistole mitnehmen?«
»Für wen?« Price lachte und schüttelte den Kopf. Den Türgriff hielt er bereits in der Hand. »Etwa für meine Tochter? Soll ich sie töten? Du hast vielleicht Nerven.«
»So habe ich das nicht gemeint, das weißt du ganz genau«, regte sich Thelma auf.
»Ja, ja, du hast recht, und ich habe meine Ruhe.« Jason Price ging und schloß die Tür von draußen.
Er war froh, seiner Frau »entkommen« zu sein. Mit der Zeit fiel sie ihm immer stärker auf die Nerven. Seit Marion sich so seltsam benahm, wurde es noch schlimmer. An allem hatte sie etwas zu nörgeln. Nichts machte man ihr richtig, und Jason hatte sein Eheweib schon so manches Mal verwünscht.
Im Haus herrschte die nächtliche Stille. Das Gebäude war ziemlich alt, über 300 Jahre. Viel hatten die Vorbesitzer nicht renoviert.
Man wollte alles historisch echt lassen. So echt, daß es baufällig wurde. Beim ersten Hinsehen sah es nicht so aus, doch der Fachmann erkannte sehr schnell die Schwachstellen in diesem Gebäude.
Zudem hatte das Haus keiner haben wollen, als der letzte Besitzer starb. Man hatte es dem Totengräber und dessen Familie quasi überlassen. Zusammen mit dem großen Grundstück und dem dazugehörigen Friedhof.
Marion besuchte ihn
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