0257 - Ein Grabstein ist kein Kugelfang
gewählt.
Der Millionär ließ sich in einen tiefen Sessel fallen. Für Sekunden schloß er die Augen. Er atmete tief durch, zog ein Taschentuch hervor und betupfte seine Stirn. Er schüttelte sich. Wieder trat das Bild aus der Schlangenhalle vor sein geistiges Auge. Wieder sah er das giftige Reptil auf sich zuschießen. Er war wie gelähmt gewesen, und nur ein Zufall hatte ihn gerettet.
Eine Bewegung, die er in letzter Sekunde ausführen konnte, brachte seinen Kopf aus der Stoßrichtung der Schlange. Um Haaresbreite verfehlte ihn der Kopf mit dem drohend geöffneten Rachen. Nicht in sein Gesicht, sondern in den breiten Pelzkragen seines schweren Mantels gruben sich die giftigen Zähne des Reptils. Er wußte, daß diese Schlange ihr Gift verspritzt hatte. Und so hatte er dem jetzt für seine Zwecke nutzlosen Reptil den Kopf zertreten.
Die nächsten zehn Minuten waren das Schecklichste gewesen, das Papesca je durchgemacht hatte. Aber es war geglückt. Und jetzt hatte er sie, die glänzenden, buntschillernden Todesboten. In warme Decken gehüllt, zischend, wild durcheinanderfahrend, lagen sie in seiner Reisetasche — acht Schlangen; jede so giftig, daß ihr Biß tödlich sein würde.
Die große lederne Reisetasche stand auf dem Rauchtisch in Jos Allentucks Apartment. Die Wände der Tasche beulten sich hier und da in plötzlichen oder gleitenden Bewegungen aus, wenn der Leib einer Schlange von innen dagegenstieß.
Papesca stand auf. Er setzte die Tasche auf den Boden. Noch immer trug der Millionär die dicken Stulpenhandschuhe. Vorsichtig zog er den Reißverschluß der Tasche um ein kleines Stück auf. Um die Länge eines Daumens bewegte er den Schlitten des Reißverschlusses auf der metallenen Sprossenbahn.
Aus dem dunklen Innern der Tasche kroch das Grauen, schob sich ein häßlicher, dreieckiger Kopf hervor, zeigte sich eine gespaltene Zunge. Gekrümmte Zähne, die wie der Tod selber waren, kalte, erbarmungslose Pupillen starrten in das Licht des Apartments.
Schnell glitt die Schlange hervor. Als ihr Kopf und eine Handbreit ihres Leibes heraus waren, griff Papesca zu. Dicht hinter dem Kopf faßte er das Reptil, zog den sich windenden Leib völlig aus der Tasche, deren Reißverschluß er augenblicklich wieder zuzog.
Das Reptil in der Linken, die er weit von sich streckte — so trat der Millionär Louis Papesca auf den noch immer bewußtlosen Sekretär zu. Er beugte sich über ihn.
Aus dem Radio ertönte die Stimme der Ansagerin. Sie verlas die neuesten Nachrichten, fügte den Wetterbericht an. Als sie abschließend die Sendung »Musik nach Mitternacht« verkündete und einen kurzen Werbetext über einen Bourbon-Whisky anschloß, näherte Louis Papesca den Kopf der Schlange Jos Allentucks Hals.
***
6.34 Uhr — am Morgen des 13. November.
Es war die Minute des gewaltsamen Todes für den zweiten Boß der New Yorker Mafia, für Joe Bingham.
Binghams Schicksal hätte sich in dieser Weise wahrscheinlich nicht erfüllt — wenn Bingham an diesem Morgen nicht verschlafen hätte.
Erst um 6.15 Uhr wurde er wach, kroch aus den Federn und begann mit seiner Morgentoilette. Als fünf Minuten später die beiden Gorillas an die Tür seiner Wohnung klopften, stand Bingham noch in Unterhosen. Er war ein eitler Mann, bedacht auf Autorität. Also öffnete er nicht, sondern sagte, daß sie warten sollten, bis er fertig sei. Dann ging er wieder ins Badezimmer, setzte den elektrischen Rasierapparat in Bewegung und schabte sich das Kinn.
Der Rasierapparat surrte. Aber auch wenn er keinerlei Geräusche verursacht hätte, würde Bingham nichts von dem vernommen haben, das sich auf dem Flur vor seiner Wohnung ereignete.
6.25 Uhr.
»Okay«, sagte Hawkins zu Levy in diesem Moment. »Aber beeil dich! Du weißt, daß der Alte fuchsteufelswild wird, wenn er merkt, daß du weg warst.«
»Unsinn! Er merkt es nicht. Außerdem bin ich in drei Minuten wieder da. Also, soll ich dir Zigaretten mitbringen?«
»Ja.« Hawkins reichte seinem Kollegen einen halben Dollar und lehnte sich dann gegen den Rahmen von Binghams Wohnungstür.
6.26 Uhr.
Levy war vor einer halben Minute mit dem Lift nach unten gefahren, um für sich selbst und Hawkins Zigaretten zu holen. Hawkins sah, wie ein Mann im Regenmantel um die Ecke des Ganges bog und mit gesenktem Kopf auf ihn zukam. Hawkins konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Er maß der schäbigen Gestalt auch keine Bedeutung bei und schenkte ihr gerade so viel Aufmerksamkeit, daß er sie
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