026 - Ich jagte das rote Skelett
Bromfield.
»Sonst kann ich heute nacht kein Auge zutun.«
Lillys Freundinnen wünschten ihr eine gute Nacht. Ernestine riet Lilly, eine Schlaftablette einzunehmen, um besser über den erlebten Horror hinwegzukommen. Lilly besaß keine Schlafpulver. Sie hatte nichts übrig für künstlich herbeigeführten Schlaf. Ernestine war in der Beziehung ganz anders. Man konnte sie als wandelnde Apotheke betrachten. Sie hatte gegen oder für alles das richtige Medikament, und sie hätte Lilly gern ausgeholfen, wenn diese nur ein Wort gesagt hätte, doch Lilly nickte nur stumm und dachte: Eine heiße Dusche wird die gleiche Wirkung tun – und ist gesünder.
Nachdem die Freundinnen gegangen waren, räumte Lilly Boyd ihren Koffer wieder aus. Sie hängte ihre Kleider in den Schrank und begab sich mit einem weißen Frotteemantel ins Bad.
Als sie sich im Spiegel betrachtete, stellte sie fest, daß ihr das erlebte Grauen noch deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Es war entsetzlich gewesen, und sie konnte es selbst kaum glauben, daß sie dabei nicht den Verstand verloren hatte.
Gedankenverloren entkleidete sie sich.
Zwischendurch drehte sie die Dusche auf. Dampfendes Wasser schoß aus dem Brausekopf. Lilly richtete sich Seife und Rückenschrubber her, und als der Spiegel beschlug, öffnete sie das schmale Badezimmerfenster, damit der Dampf abziehen konnte.
Als sie nackt war, blickte sie an sich hinunter. Sie hatte eine makellose Figur, lange, wohlgeformte Beine, schwellende Hüften, einen flachen Bauch und schwere Brüste. Sie war immer ein bißchen stolz auf ihren schönen Körper gewesen. Die Begegnung mit dem roten Skelett hatte ihr drastisch vor Augen geführt, wie schnell ein Leben zu Ende sein konnte. Dann wäre dieser Körper nicht mehr von warmem Lebenssaft durchpulst worden. Kalt und leblos hätte er in dieser leeren Wohnung gelegen, entstellt, von glühenden Knochenhänden verwüstet…
Lilly schauderte.
Sie hob den transparenten Nylonvorhang auseinander. Wasser spritzte ihr ins Gesicht. Sie trat in die Brausetasse, schloß den Vorhang hinter sich und griff nach der Seife, während sie das warme, nadelfeine Prickeln auf ihrer Haut mit geschlossenen Augen genoß.
Daß sich in diesem Augenblick die Zimmertür öffnete, bemerkte sie nicht.
***
Das rote Skelett trat ein. Mit schlafwandlerischer Sicherheit hatte Arma den Weg zu Lilly Boyd gefunden. Sie verließ sich dabei ganz auf ihren hypersensiblen geistigen Tastsinn, der ihr verriet, wohin sie gehen mußte. Niemandem im Haus war aufgefallen, daß über die Stufen ein glühendes Gerippe unterwegs war.
Arma schlich an mehreren geschlossenen Türen vorbei.
Die Zauberin machte sich keine Gedanken wegen Tony Ballard.
Der Dämonenhasser würde nicht verhindern können, daß sie sich Lilly Boyds Haar holte. Daß das nicht ohne Lillys Tod abging, war klar. Aber auch das würde Tony Ballard nicht verhindern können.
Lautlos schloß das rote Skelett die Zimmertür.
Ein gieriger, mordlüsterner Ausdruck flackerte in den Augen, die Arma Nora Landis geraubt hatte. Jetzt gehörten sie ihr. Niemand konnte sie ihr wieder wegnehmen.
Die Zauberin ging am Schrank vorbei, dessen Türen offenstanden. Sie erreichte die ebenfalls offene Badezimmertür, durch die ihr schwere Dampfwolken träge entgegenschwebten.
Arma erblickte ihr nacktes Opfer, dessen rosiger Körper sich am milchigen Plastikvorhang abzeichnete.
Lilly schrubbte sich soeben kräftig den Rücken. Das war angenehm und förderte die Durchblutung der Haut.
Arma lachte in sich hinein. Sie säubert sich fürs Sterben! dachte sie. Sie will rein ins Reich der Toten gehen!
Die Zauberin betrat das Badezimmer. Lilly Boyd kehrte ihr den Rücken zu. Jetzt drehte sie sich langsam um. Fühlte sie die Gefahr?
Als das Mädchen das rote Skelett durch den Vorhang leuchten sah, erstarrte es. Der zweite Schock war schlimmer als der erste, denn diesmal waren ihre Nerven schon angegriffen. Fassungslos stierte sie das glühende Gerippe an und war in diesem Moment nicht fähig sich zu rühren.
Arma trat näher.
Dadurch war das rote Skelett deutlich zu erkennen. Angst und Grauen verzerrten Lillys hübsches Gesicht. Die Panik stürzte wie eine Springflut über sie. Eiswasser schien auf einmal in ihr Herz zu fließen. Sie hatte das Gefühl, dieser Schock würde sie nun umbringen. Das rote Skelett brauchte gar nichts zu tun. Sie würde von selbst zusammenbrechen und sterben – weil dieser neuerliche Horror einfach zuviel für sie
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