0261 - Im Bann der Tiermenschen
mysteriösen Vorfall mitbekommen, und irgendwann kehrte in die Mauern des Gasthauses wieder vollkommene Stille ein…
***
Zamorra wollte Nicole, einem spontanen Entschluß folgend, in die Arme fallen, aber dann zuckte er im letzten Moment vor der Schlafenden zurück.
Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht, als er das kreisrunde, daumendicke Mal auf ihrer Stirn sah.
Das Hexenmal!
Allmächtiger, durchfuhr es ihn.
Aber was hatte er erwartet?
Daß die Lia Fail Nicole ohne Vorbehalte zurückschicken würde?
Wer war schon so blauäugig, dies zu glauben?
Ich! dachte Zamorra, und ein paar Augenblicke lang hatte er es wirklich gehofft. Doch die Realität sah anders aus. Nicole war zurück, aber in welcher Verfassung…
Zamorra hatte sich neben sie ins Auto gesetzt, und plötzlich war er sich der teuflischen Gefahr bewußt, in der er sich befand. Nicole konnte sich jeden Augenblick auf Befehl der Hexe in eine reißende Tierbestie verwandeln!
Die Situation war von einer völlig ungewohnten Unwirklichkeit.
Zamorra schauderte.
Nicht das erste Mal befand er sich in tödlicher Gefahr, aber die Richtung, aus der diese Gefahr ausging, war ungewohnt: ausgerechnet von dem Menschen, den er am meisten liebte!
»Nici!« flüsterte er.
Er sprach ihren Namen aus, obwohl er sich insgeheim davor fürchtete, sie irgendwie aus ihrem Schlaf zu reißen. Was würde passieren, wenn sie erwachte?
Absurd, dachte Zamorra. Der Schlaf ist in diesem Fall etwas wie ein Verbündeter für mich. So lange er anhält, bedeutet Nici keine Gefahr für mich…
Doch dieser Verbündete zog sich bereits in der nächsten Sekunde zurück.
Nicole schlug die Augen auf!
Zamorra wich automatisch von ihr zurück. Seine Rechte flog zum Schwertknauf, obwohl es fast unmöglich war, die Klinge in der Enge des Wagens zu ziehen.
»Cherie…« hauchte Nicole und blinzelte desorientiert mit den Augenlidern. »Was… Wie komme ich hierher? - Wie kommst du hierher? Die Hexe…«
Mit Erleichterung erkannte Zamorra, daß die Lia Fail momentan offensichtlich keinen Einfluß auf Nicole ausübte. Aber warum ? Wollte sie einen günstigeren Zeitpunkt abwarten? Wann konnte der Zeitpunkt günstiger sein als jetzt?
Zamorra löste die Hand vom Schwertknauf und legte sie ebenso behutsam wie vorsichtig auf Nicoles Knie. Die Französin griff sofort danach und drückte sie ängstlich.
»Was ist passiert? Hat mich die Hexe wirklich zurückgeschickt?«
Zamorra nickte ernst. Er brachte noch kein Wort hervor. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte.
Sollte er Nicole im Ungewissen lassen oder ihr das Stigma auf der Stirn zeigen?
»Sieh in den Spiegel«, sagte er schließlich rauh.
Er versuchte, den riesigen Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken, aber es gelang ihm nicht. Er schien ebensowenig vergänglich zu sein, wie das Mal auf Nicoles Stirn.
»Spiegel?« echote sie verstört, griff aber hoch zu der Innenblende des Wagens, auf der ein Schminkspiegel befestigt war und orientierte ihn so, daß sie sich darin sehen konnte.
Zamorra half etwas nach, damit der richtige Gesichtsausschnitt ins Blickfeld geriet.
Dann sah sie es.
Und ihr Gefühlsausbruch war echt, nicht gespielt! Sie hatte wirklich keine Ahnung von dem Mal gehabt!
»Oh, mein Gott!« schluchzte sie und vergrub den Kopf an Zamorras Schulter. »Und ich dachte, es sei vorbei, nicht von Dauer… Diese verfluchte Hexe - sie hat mich unten in ihrem Unterschlupf in einen schwarzen Panther verwandelt. Dann - dann schlief ich ein, und als ich erwachte, war die Verwandlung aufgehoben. Ich hatte wieder meine menschliche Gestalt und dachte, alles sei vorbei. Ein einmaliger Vorfall. Ich wußte nicht, daß sie mir ihr Mal aufgedrückt hat…«
Nicoles Stimme verebbte in heftigem Schluchzen.
Zamorra versuchte, sie zu beruhigen, aber es fiel ihm schwer.
Denn in diesem Augenblick durchschaute er die Teufelei der Hexe in ihrer vollen Tragweite.
Die Lia Fail hatte Nicole zu ihm zurückgeschickt, um zu testen, wie er auf diese neue Form der Herausforderung reagieren würde.
Nur die Hexe selbst wußte, wann sie Nicole den Befehl zur Verwandlung geben würde. Bis dahin war sie eine ständige, latente Gefahr für Zamorras Leben. Eine biologische Zeitbombe, die längst tickte!
Zamorra fragte sich, wie er diese nervliche Belastung aushalten sollte.
»Es wird alles gut, beruhige dich«, flüsterte er Nicole zu.
Dann startete er den Motor des Wagens und fuhr zurück ins Dorf.
Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen
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