027 - Ruf des Blutes
berührte ihn am Arm. »Nicht«, sagte sie leise. »Jetzt noch nicht.«
Er entspannte sich, wandte ihr den Blick zu. »Was meinst du mit jetzt noch ni…?«
Sie ließ ihn nicht ausreden, ließ ihn auch nicht los, nahm ihn an der Hand und zog ihn mit sich. »Es gibt noch etwas, das ich euch zeigen möchte.«
Sie verließen die Galerie, von der aus früher vermutlich Wartungsarbeiten an der Produktionsmaschinerie ausgeführt worden waren, über einen weiteren Gang, der in einen Korridor mündete, an dem sich auf der einen Seite leere Zimmer reihten, ehemalige Büros und Kontrollräume, wie Matt an den Resten der Einrichtung erkannte. Die gegenüberliegende Wand wurde von Fenstern durchbrochen. Durch sie fiel der Blick in eine weitläufige Halle, von der große Tore auf Rampen hinaus führten. Von hier aus war einst der Abtransport erfolgt.
Heute war die Halle in flackernden Kerzen- und Fackelschein getaucht. Lange Bänke und Tafeln waren aufgestellt worden, in der Tat so, als stünde alles bereit für ein festliches Mahl für zahlreiche Gäste.
Der Blickfang jedoch und das Augenfälligste dort unten war - ein Sarkophag.
Ein gewaltiges, monströses hölzernes Ding, reich verziert mit Farben und Intarsia. Und in all dem Zierrat waren zwei Gestalten herausgearbeitet worden. Ein Mann und eine Frau, die - über die Distanz zumindest - beinahe lebensecht aussahen, so als lägen sie auf dem Sarkophag und schliefen nur.
»Was ist das?«, fragte Matt verblüfft.
»Darin befinden sich die Überreste zweier Nosfera«, behauptete Rhian. »Auf sie geht die Idee der großen Zusammenkunft und der Einheit zurück. Die Blutsäufer verehren das Paar. Und zum Zeichen des Neubeginns wollen sie die Reliquien dem Feuer übergeben.«
Matt schauderte. Irgendwie klang es unheimlich vertraut, was er da hörte. Fanatiker, pseudoreligiöse Spinner. Sie waren nicht ausgestorben, o nein. Es gab sie immer noch - und sie waren gefährlicher denn je!
Rhian hielt immer noch seine Hand. »Genug gesehen?«, fragte sie.
»Mehr als genug.« Matts Stimme kratzte.
»Dann kommt - ich bringe euch zu meinen Freunden«, sagte Rhian und führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Erst hinaus und dann hinauf in die Nacht.
Die Reste Philadelphias lagen tief unter ihnen. Das Mondlicht schuf aus den Gebäuden und Ruinen eine bizarre Landschaft, fast wie aus Vulkangestein, mit schroffen Kanten und steilen Klüften.
Und sie kletterten höher und immer höher, ließen die Stadt unter sich zurück wie eine andere Welt.
Obwohl der Wind hier oben von schneidender Schärfe war und bitterkalt, war Matthew Drax in Schweiß gebadet. Hinter ihm schnaufte Jonpol Sombriffe wie eine Dampfmaschine.
Nur Rhian schien der beschwerliche und scheint's endlose Aufstieg nichts auszumachen.
Der Aufstieg…
Eher eine Bergtour. Die Bezwingung eines Berges aus Stahl, Beton und Glas.
Sie erklommen einen Wolkenkratzer, in dem sich die Aufzüge vor fünf Jahrhunderten zum letzten Mal bewegt hatten und an dem seither der Zahn der Zeit gnadenlos gefressen hatte. Nur die steinernen Gargoyles, die an der Fassade hingen und hockten oder sich wie zum Sprung bereit festklammerten, hatte er seltsamerweise fast verschont. Die grotesken und furchteinflößenden Phantasiegestalten schienen für die Ewigkeit geschaffen…
Zwanzig, fünfundzwanzig Stockwerke lagen mittlerweile unter ihnen. Etwa die gleiche Zahl wartete noch auf sie. Wenn Matt nach oben sah, hatte er allerdings das Gefühl, als nähme der marode und monströse Turm überhaupt kein Ende.
Dort oben hatten sich Rhians Freunde eingenistet, wie in einem unzugänglichen Adlerhorst. Dorthin waren sie unterwegs - über Treppen und Leitern, an Seilen und Kabeln und stählernen Trägern empor. Sollte tatsächlich jemand auf die Idee kommen, Rhian und ihre Freunde da oben angreifen zu wollen, würde ihm nach dieser Klettertour schlicht die Kraft dazu fehlen…
Aber irgendwann hatten sie es doch hinter sich. Noch bevor sie die obere Etage enterten, wurde ihre Ankunft bemerkt.
»Auge um Auge…«, rief jemand halblaut von oben herunter.
Und Rhian antwortete: »… Zahn um Zahn.«
Ein Codewort, der Bibel entnommen. Matt staunte einmal mehr. Er wusste nicht, was er erwartet, wie er sich Rhians Freunde vorgestellt hatte. Aber wie auch immer, er hatte dabei ganz sicher nicht die »verlorenen Kinder« aus dem »Nimmerland« vor Augen gehabt. Doch an eben jene erinnerte ihn die Truppe hier oben. Und es fiel ihm nicht schwer,
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