0272 - Gorgonen-Fluch
waren längst fort. Sie kamen nur bei Tageslicht und brachten klingende Münze.
Rascani war einer der Leute, die ganz oben die kleine Sperre unterhielten und Eintritt kassierten. Knapp unter der Vulkanspitze, zu der ein schmaler Serpentinenweg hinaufführte, war diese Sperre. Wer in den Kegel hinunterschauen wollte, in den Trichter, in dem es hier und da rauchte, der mußte zahlen. Und er konnte auch direkt hier oben noch Andenken und Bücher kaufen.
Normalerweise war vor Einbruch der Dämmerung Schluß. Aber ausgerechnet heute war Carlo allein noch etwas oben geblieben, um eine Reparatur vorzunehmen. Es war einfacher, eine halbe Stunde länger oben zu bleiben, als am kommenden Morgen eine halbe Stunde früher aufzustehen.
Jetzt stand er da, auf der Straße, die vom Vesuv wegführte. Sein Wagen streikte. Warum, wußte er nicht. Strom war da, Benzin war da, der Anlasser orgelte vergnügt vor sich hin, bloß sprang die Kiste nicht mehr an, nachdem sie während der Fahrt abstarb. Verölte Zündkerzen konnten es demzufolge auch nicht sein. Vielleicht Kriechströme. Aber gab es die nicht nur bei Feuchtigkeit?
Trockener als heute war die Luft aber seit Neros Thronbesteigung nicht mehr gewesen.
Carlo Rascani versetzte dem Wagen einen Tritt und beschloß, beim nächsten Kauf die Marke zu wechseln. Vom Fiat 500 auf Mercedes 450 umzusteigen. Leisten konnte er sich den trotz der hohen Benzinpreise in bella Italia allemal, weil er genug verdiente und weder Frau noch Kinder zu ernähren hatte. Er fuhr den kleinen Wagen nur, weil er im Grunde nicht auffallen wollte. Es gab genug Leute, die darauf spitzten, nach einem eintrittsgeldreichen Abend abzukassieren, und keiner rechnete damit, daß die Kasse in einem uralten Mini-Fiat transportiert wurde.
Auf eine Visiereinrichtung auf der Kühlerhaube war Carlo schon lange scharf. Es mußte ja auch kein 450er sein. Ein Turbodiesel würde völlig ausreichen.
Bloß nützten ihm seine Gedanken hier nichts. Vorerst lag er gründlich fest. Zwar ohne Kasse, weil Emilio die mitgenommen hatte. Aber was half’s? Carlo fluchte wie ein Schornsteinfeger und ging ein paar Schritte die Straße entlang. Wenn er den Wagen hier stehen ließ, kam es morgen früh zu einer mittleren Katastrophe, wenn die Touristenbusse die schmale Straße hinauf dampften und nicht an dem Hindernis vorbeikamen.
Aber wie sollte er den Fiat hier wegbekommen?
Da sah er etwas Helles am Straßenrand stehen. Etwa unterarmlang, weiß. Eines dieser Marmorfigürchen.
»Die spinnen, die Touristen«, murmelte Carlo und hob das Ding auf. Mußte sich gehörig mit Sonnenwärme aufgeladen haben. Aber wer hatte die Figur hier hingestellt?
Wenn der Käufer sie nicht haben wollte, hätte er sie nicht erst zu kaufen brauchen, verflixt. Aus dem Auto oder dem Bus gefallen sein konnte sie nicht. Sie wäre ja zerschellt. Viel hielt der Preßstaub nicht aus. Carlo betrachtete die Figur näher.
»Nee, das ist aber keine von unseren«, sagte er verblüfft, »weil wir doch nix aus Ägypten oder Griechenland verscherbeln… doch nicht hier in Italien!«
So ganz sicher war er sich nicht, ob die Figur nun ägyptisch oder altgriechisch war. Bloß römisch war sie auf keinen Fall. Zwangsläufig kannte Carlo sich da aus.
Aber sie übte einen ungeheuren Reiz auf ihn aus, so wie er sie da im Mondlicht betrachtete. Sie war schön.
Mitnehmen konnte nicht schaden, entschloß er sich spontan. Und wenn sie bei ihm auf dem Regal stand, war das mal ein anderer Anblick als der ganze italienische Figurenfirlefanz, den er tagtäglich neben Eintrittskarten und Büchern über den Vesuvausbruch anno Bratkartoffeln verkaufte. Daß der Verlierer sich jemals melden würde, glaubte er nicht. Und wenn schon. Wer so dämlich war, eine so prachtvolle Figur zu verlieren, der gehörte einfach bestraft.
Carlo schlenderte zum Wagen zurück. Sein Mißmut über die Panne schwand etwas. Ohne den Defekt hätte er die Figur am Straßenrand vielleicht nicht einmal gesehen.
Er legte sie vorsichtig auf den Beifahrersitz. Probeweise drehte er noch einmal den Zündschlüssel.
Der Fiat 500 sprang sofort an.
»Ja, hol mich doch der Teufel«, murmelte Carlo und fuhr überrascht los.
Daß der Teufel ihn tatsächlich holen wollte, konnte er selbst bei großzügigster Betrachtung der Sachlage nicht einmal ahnen. Gelassen und ein Liedchen trällernd, fuhr er heimwärts und wurde von keiner weiteren Panne mehr behelligt. Er schrieb es der kleinen Statue zu. Vielleicht war die so
Weitere Kostenlose Bücher