028 - Das Monster und die Schöne
erhob.
»Das ist das Schloß des Grafen Lopatin.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, pfiff sie wieder, und die Wölfe liefen auf eine große Höhle zu. Einige Sekunden fuhren wir durch die dunkle Höhle, die dann in einen breiten Weg überging, der sich in sanften Windungen zum Schloß hinzog. Tanja schmiegte sich eng an mich und ergriff meine rechte Hand; den Kopf lehnte sie an meine Schulter. Zu meiner Überraschung genoß ich ihre Nähe. Einerseits zog sie mich seltsam an, andererseits stieß sie mich ab.
Es dauerte nur wenige Minuten, und wir hatten das Schloß erreicht. Vor dem Torgraben hielten wir an. Wir stiegen aus dem Schlitten, und ich blieb vor dem Graben stehen. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Der Graben war mindestens zweihundert Meter tief.
»Wie gefällt dir das Schloß, Dorian?«
Mir gefiel es überhaupt nicht. Es wirkte irgendwie gefährlich. Schwarze, glatte Mauern mit vereisten Fenstern, die wie Eiterbeulen wirkten.
»Ganz nett«, log ich.
Über uns war ein lautes Krächzen zu hören. Ich hob den Blick und sah Hunderte riesiger Raben, die aus einem der zerfallenen Gebäude aufstiegen. Sie kreisten über uns. Und wieder kam mir alles ganz unwirklich vor – so, als würde ich träumen. Das seltsame Mädchen mit den Wölfen, dazu das halbzerfallene Schloß und die kreischenden Raben.
Tanja zog mich weiter. Vor dem Burgtor blieben wir stehen. Die gewaltige Zugbrücke war hochgezogen.
»Ist das Schloß bewohnt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es steht schon seit mehr als hundert Jahren leer. Ich komme oft hierher. Ich liebe das Schloß. Es erinnert mich an alte Zeiten.«
»Hm, wir können aber nicht hinein, da die Zugbrücke oben ist.«
Es war mir nur recht, da ich wenig Lust auf eine Schloßbesichtigung hatte.
»Das ist kein Problem«, sagte Tanja und lief einige Schritte nach links.
Ich sah ihr nach. Sie blieb vor einer Platte stehen, die fast schneefrei war, kniete nieder, tastete mit beiden Händen über die Platte, nickte zufrieden und drehte einen Ring. Ein lautes Knarren war zu hören, dann donnerte die schwere Zugbrücke herunter, und Schnee stob hoch.
Ich runzelte die Stirn. Das war einigermaßen seltsam. Normalerweise konnte man eine Zugbrücke nur von innen herunterlassen, sonst hätte sie ja auch nicht viel Sinn gehabt.
Tanja sprang auf die Brücke und winkte mir vergnügt zu. Mißmutig folgte ich ihr. Wir gingen unter dem Fallgatter hindurch und traten in den Schloßhof, in dem mehr als ein Meter Schnee lag. Ich versank fast bis zu den Hüften. Brummend blieb ich stehen.
»Du brauchst nicht in den Hof zu gehen«, sagte Tanja und öffnete eine Tür, die neben dem Fallgatter lag. »Gib mir deine Hand!«
Sie zog die Tür weiter auf. Schwarze Stufen verloren sich in der Dunkelheit. Tanja stieg die Treppe langsam hinauf. Nach einigen Schritten war es völlig dunkel um uns. Ich zählte die Stufen. Es waren genau fünfundzwanzig. Die Dunkelheit ging in ein unwirkliches Dämmerlicht über. Tanja führte mich durch einen breiten Wehrgang zu einem der runden Wachtürme. Danach ging es wieder Stufen hoch, und endlich erreichten wir einen großen langgestreckten Raum. Die fünf hohen Glasfenster führten auf den Schloßhof. Zu meiner Überraschung war es angenehm warm, und es fehlte der charakteristische Geruch, der Räumen anhaftete, die lange nicht bewohnt werden. Den Fenstern gegenüber hingen große Ölgemälde. Ein halbes Dutzend großer Perserteppiche bedeckte den spiegelnden Parkettboden. Der Raum war bis auf einen schweren Eichentisch und zehn kunstvoll geschnitzte Stühle leer. Eigentlich hätten die Möbel und der Boden mit einer dicken Staubschicht bedeckt sein müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Es sah so aus, als würde der Raum jeden Tag gepflegt werden.
Ich betrachtete die Ölbilder. Die meisten stellten finster dreinblickende Herren in prachtvollen Gewändern dar, aber es befanden sich auch einige Frauen darunter. »Eines verstehe ich nicht«, sagte ich und blickte Tanja an. »Wie ist es möglich, daß alles tadellos in Ordnung ist und niemand das Schloß geplündert hat? Die Teppiche müssen ja ein kleines Vermögen wert sein.«
Doch wie üblich bekam ich keine Antwort. Tanja ging rasch weiter. Im Vorbeigehen studierte ich die Bilder. Vor dem letzten blieb ich stehen und trat näher. Es zeigte ein bildhübsches Mädchen, das höchstens achtzehn Jahre alt war. Die Ähnlichkeit mit Tanja war nicht zu übersehen. Es hätte ihre Zwillingsschwester
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