028 - Das Monster und die Schöne
bereit. Ich trat aus dem Haus und blieb überrascht stehen. Ein Dutzend Dorfbewohner blickten mich böse an. Tanja blieb in der Tür stehen. Ihr Lächeln erlosch. Sie sah jetzt traurig aus.
Ein breitschultriger Mann trat einige Schritte vor. »Wir müssen mit dir sprechen, Tanja.«
Sie trat neben mich und fragte ungehalten in Richtung der Dorfbewohner: »Was wollt ihr? Ihr stört mich.«
»Es geht um den Fremden«, sagte der breitschultrige Mann.
»Er hat euch nicht zu interessieren«, zischte Tanja mit mühsam unterdrückter Wut.
»Wir wollen, daß er dem Wijsch geopfert wird«, schrie ein anderer Mann.
»Ja, das wollen wir«, brüllten einige andere.
»Ruhe!« rief Tanja. »Ihr habt nicht darüber zu entscheiden.«
»Der Fremde ist ein Spion«, knurrte der breitschultrige Mann und kam näher. »Ein Spitzel der Regierung. Er ist dafür verantwortlich, daß der Wijsch geweckt wurde.«
»Unsinn!«
»Setz ihm den Stirnreifen auf«, brüllte ein kleiner Mann, der eine gewaltige, rotglühende Nase hatte.
»Schert euch in eure dreckigen Hütten zurück!« schrie Tanja mit japsender Stimme. »Augenblicklich! Ich will euch nicht sehen!«
»So kannst du nicht mit uns sprechen!« brüllte der Anführer der Gruppe.
»Ich werde noch ganz anders mit euch reden, wenn ihr nicht augenblicklich verschwindet.«
»Dann soll der Fremde verschwinden. Wir wollen ihn nicht hier haben.«
»Er steht unter meinem Schutz. Und jetzt geht endlich!«
Die Männer warfen mir feindselige Blicke zu und zogen murrend ab. Einige drohten mir mit den geballten Fäusten.
Das Gespräch war recht aufschlußreich für mich gewesen. Die Dorfbewohner glaubten tatsächlich, daß dieser geheimnisvolle Wijsch zum Leben erwacht war. Und Tanjas Amulett mußte bei der Opferung eine Rolle spielen. Gestern hatte sie es getragen, als wir ins Dorf gingen. Später hatte ich es dann auf Ignatjeffs Stirn gesehen. Der Junge hatte sich verzweifelt bemüht, den Stirnreif herunterzubekommen, was ihm aber nicht gelungen war. Und dann war Tanja zur Opferung aufgetaucht – und sie hatte keinen Stirnreifen getragen. Das und die Bemerkungen der Dorfbewohner ließen nur einen Schluß zu: Sie war es, die die Opfer auswählte. Derjenige, dem sie das Stirnband aufsetzte, der wurde geopfert.
Tanja schmiegte sich an mich. Sie wirkte jetzt wieder wie eine unschuldige, junge Frau. »Komm, Dorian! Wir fahren jetzt los.«
Ich folgte ihr. Sie ging um das Haus und blieb vor einem kleinen Schuppen stehen. Gemeinsam zogen wir den schweren Schlitten heraus. Sie ließ die Wölfe frei, die sie freudig umsprangen. Mich beachteten die Tiere überhaupt nicht. Willig ließen sie sich vor den Schlitten spannen.
»Steig ein!« sagte Tanja zu mir.
Ich kroch auf den Schlitten und setzte mich. Tanja ließ sich neben mir nieder. Sie lachte und pfiff schrill. Die Wölfe bewegten sich langsam. Ein weiterer Pfiff ließ sie rascher laufen.
Nach einigen Minuten fuhren wir durch eine unberührte Schneelandschaft. Es war ein herrlicher Wintertag. Der Himmel war hellblau und wolkenlos. Es war völlig windstill. Wir fuhren der hochstehenden Sonne entgegen.
Für einige Sekunden genoß ich die Fahrt. Ich kam mir wie in eine Traumlandschaft versetzt vor. Doch dieses Gefühl der totalen Entspannung verschwand rasch. Tanja war mir unheimlich. Die Wölfe, die auf jeden ihrer Pfiffe folgten, die Angst der Dorfbewohner vor ihr, ihre seltsame Rolle bei der Opferung und ihr Verhalten mir gegenüber – das alles war höchst merkwürdig. Ich musterte sie verstohlen. Ihr Gesicht war entspannt; ein zufriedenes Lächeln umspielte ihren Mund. Ich konnte mich täuschen, doch ich war ziemlich sicher, daß sie sich in mich verliebt hatte.
Ich war gespannt, wohin sie mich brachte und was sie mir zeigen wollte. Wir fuhren zwischen einigen Hügeln hindurch und dann ging es einen steilen Weg hoch. Ich wandte den Kopf um. Deutlich war das Dorf zu sehen. Niemand kam uns entgegen. Ich sah auch keine Häuser. Die Gegend schien völlig unbewohnt zu sein.
Die Wölfe wandten sich nach rechts, und dann konnte ich das Dorf nicht mehr sehen. Einige Minuten lang fuhren wir einen schmalen Pfad entlang. Rechts und links ragten steile Felswände empor. Tanja beugte sich vor und stieß einen schrillen Ruf aus. Die Wölfe blieben hechelnd stehen. Sie hob den rechten Arm, und mein Blick folgte ihrer ausgestreckten Hand. Ich sah ein Schloß. Es war ein wuchtiger, halbzerfallener, schwarzer Bau, der sich hundert Meter über uns
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