0295 - Tal der vergessenen Toten
Noch zwei Gräber mußten sie ausheben, und das konnte auch am nächsten Tag erledigt werden. Deshalb ordnete er an, alles zusammenzupacken.
»Die beste Idee, die Sie seit langem hatten«, sagte einer der Arbeiter.
»Aber das holen wir nach.«
»Sicher, Chef, sicher.«
Äcker ärgerte sich oft, daß ihn die anderen nicht ernst nahmen. Er selbst sah sich als Respektsperson, aber da stieß er bei seinen Mitmenschen auf taube Ohren.
So schaute er nur noch zu, wie die Männer alles zusammenpackten.
Die Gebeine waren in vorbereitete und präparierte Kisten gelegt worden. Auf jeder Kiste stand eine Nummer. Mit heller Farbe gemalt, so daß sie nicht zu übersehen war. Dieselbe Nummer befand sich auch auf den neuen Gräbern, so daß Verwechslungen so gut wie ausgeschlossen waren. Und wenn die Knochen mal durcheinander gemischt wurden, wer merkte das schon? Man achtete eben aus Gründen der Pietät ein wenig strenger darauf, daß alles im Rahmen blieb.
Matthias Äcker bezeichnete sich selbst als den Fachmann für Umbettung. Unter seiner Aufsicht war noch nie etwas schiefgegangen.
Seit drei Monaten hatte man ihm einen Assistenten zur Seite gestellt. Einen jungen Vermessungsingenieur, den Äcker aber nicht akzeptierte. Zudem hielt er Informationen zurück, er wollte den zweiten Mann nicht zu viel wissen lassen.
»Sie fahren dann mit, Vogt, und sehen zu, daß die Knochen richtig verstaut werden. Morgen machen wir weiter.«
Vogt nickte. Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser, sie beschlugen fortwährend. »Fahren Sie denn nicht mit, Chef?«
»Später. Ich habe ja meinen Privatwagen hier.« Äcker schaute in die Runde. »Ich hoffe, daß alles abgesperrt ist.«
»Wie meinen Sie das, Chef?«
»Mann, Vogt, stellen Sie sich nicht so an. Hat man Ihnen auf der Schule in Köln nicht beigebracht, daß die Gruben oft siebzig Meter tief sind? Wenn Sie da hinunterfallen, hilft Ihnen niemand mehr.«
»Chef, da muß ich widersprechen. Neulich stand in einer Kölner Zeitung, daß ein Kind den Sturz überlebt hat.«
»Weiß ich alles. Ist mir jetzt noch ein Rätsel.«
Aus dem Nebel lösten sich Schatten. Es waren keine Zombies, sondern die Gestalten der Arbeiter, die sich bei ihrem Chef abmelden wollten. »Wir fahren«, wandte sich der Vorarbeiter an seinen Chef.
»Gut, Sie wissen ja Bescheid.«
»Natürlich, Herr Äcker.«
»Herr Vogt wird Sie begleiten. Und seien Sie vorsichtig!«
Der Vorarbeiter lachte. »Was denken Sie denn? Ich kenne die Grube hier aus dem Effeff.«
»Dann bis morgen.«
»Kommen Sie, Herr Vogt. Sie können vorn bei mir sitzen. Ist ja eine Ihrer ersten Nebelfahrten durch das Gelände.«
»Allerdings.«
»Wenn Sie mal einige Jahre bei uns sind, ist so etwas schon Routine«, hörte Äcker den Mann reden.
Wenig später brummten zwei Motoren. Die Wagen fuhren ab. Geisterhaft glotzten die Augen der Scheinwerfer.
Äcker blieb zurück. Ihm paßte die Nebelsuppe auch nicht, aber noch intensiver dachte er über den Besuch der beiden Polizeibeamten nach. Es waren schreckliche Verbrechen geschehen, und Matthias Äcker hatte damit nichts zu tun. Er verabscheute die Taten, dennoch glaubte er, etwas herausgefunden zu haben.
Es hing mit den Aussagen des überlebenden Jungen zusammen. Gerd Wiesner hatte von einer seltsamen Gestalt gesprochen. Seine Worte waren in den Zeitungen gedruckt worden, man hatte sie oft nachlesen können. Und gerade über diese Gestalt war Äcker gestolpert. Ein Mensch hätte es den Beschreibungen nach nicht sein können. Eher ein Monster. Äcker glaubte nicht an Geister, auch nicht an Gespenster, aber an die Historie. Auch an die seiner Familie.
Und da war er auf etwas gestoßen, das ihn stutzig gemacht hatte. Er empfand es als einen Schandfleck. Ahnenforschung hatte er betrieben, und deshalb war ihm der Name Richard Äcker auch im Gedächtnis geblieben. Einer seiner Vorfahren hatte vor etwa 100 Jahren in dieser Gegend als Einsiedler gelebt und sich mit Teufelsmagie beschäftigt. Das stand in den Chroniken. Dann war das Unglück geschehen. Fünf Bergleute wurden verschüttet, lebendig begraben. Die Aussagen der Zeugen waren festgehalten worden. Man konnte sie noch nachlesen. Zwar war niemand dabeigesessen, doch man wußte genau, welche Kleidung die Männer getragen hatten.
So einen Fetzen hatte auch der Mörder angehabt.
Es grenzte für Äcker schon an gelinden Wahnsinn, eine solche Theorie aufzubauen. Seltsamerweise mußte er aber stets daran denken, auch jetzt, als er zu
Weitere Kostenlose Bücher