03 Die Auserwählten - In der Todeszone
mehr, als er zu erkennen gab. Das Fenster, durch das er hin und wieder in seine Vergangenheit blicken konnte, war zwar völlig verschmiert und bot ihm nur einen verschwommenen Ausblick; aber dass er tatsächlich für ANGST gearbeitet hatte, konnte er nicht leugnen. Mit Teresa zusammen hatte er an der Erschaffung des Labyrinths mitgewirkt. Auch andere Erinnerungen waren in Bruchstücken zurückgekommen.
»Es bringt uns nun nichts mehr, dich weiter im Dunkeln tappen zu lassen, Thomas«, meinte Rattenmann.
Thomas fühlte sich auf einmal schrecklich müde, als ob ihn alle Kraft mit einem Schlag verlassen hätte und nur seine leere Hülle übrig blieb. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich zu Boden sinken und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, was Sie damit meinen.« Welchen Sinn hatte eine Unterhaltung überhaupt, wenn man den Worten des anderen sowieso nicht trauen konnte?
Rattenmann redete weiter, aber in einem anderen Tonfall: Er sprach jetzt weniger kalt und abweisend, sondern als würde er einem Kleinkind etwas erklären. »Du weißt ja sehr gut, dass die Welt an einer fürchterlichen Krankheit leidet, die das Gehirn der Menschen zerstört. Alles, was wir bisher getan haben, hatte nur einen einzigen Zweck: eure Gehirnaktivitäten zu analysieren und auf dieser Grundlage einen Masterplan zu erstellen. Das Ziel des Masterplans ist es, eine Heilung für die Seuche zu finden. Eure Freunde, die leider dran glauben mussten, euer Leid und Elend – du wusstest von Anfang an, wie schlimm es werden würde. Wir alle wussten es. Doch jedes Detail diente dem Überleben der menschlichen Rasse. Und wir sind der Lösung nahe. Sehr, sehr nahe.«
Thomas hatte bisher nur Bruchstücke seines Gedächtnisses zurückbekommen. Bei der Verwandlung und in den Träumen, die er seitdem hatte, blitzten immer wieder Erinnerungen in seinem Kopf auf. Und während er jetzt dem Mann in Weiß zuhörte, hatte er plötzlich das Gefühl, als stände er an einem Abgrund und alle Antworten würden sich jeden Augenblick vor ihm auftun. Als würde gleich alles ganz klar vor ihm liegen. Der Wunsch, endlich Antworten zu bekommen, war überwältigend.
Dennoch war er misstrauisch. Er wusste zwar, dass er ein Teil der Organisation ANGST gewesen war, dass er geholfen hatte, das Labyrinth zu entwickeln, dass er nach dem Tod der ursprünglichen Schöpfer in deren Fußstapfen getreten und das Programm mit neuen Teilnehmern weitergeführt hatte. »Ich erinnere mich an genug, um mich dafür zu schämen«, gab Thomas zu. »Aber solche Misshandlungen selbst zu erleben ist etwas ganz anderes, als sie sich auszudenken. Das ist unmenschlich. Das wissen Sie genau.«
Rattenmann kratzte sich an der Nase und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Irgendetwas von dem, was Thomas gesagt hatte, war ihm unangenehm. »Warten wir ab, wie du am Ende dieses Tages darüber denkst, Thomas. Warten wir’s ab. Aber verrat mir eins: Bist du wirklich überzeugt, dass es sich nicht lohnt, ein paar wenige Menschen zu verlieren, wenn man damit unzähligen anderen das Leben rettet?« Der Mann lehnte sich vor und fragte ihn geradezu beschwörend: »Die Frage ist alt – aber glaubst du nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt? Wenn man keine andere Wahl hat?«
Thomas starrte ihn nur an. Auf diese Frage gab es keine richtige Antwort.
Vielleicht wollte Rattenmann lächeln, es sah aber eher wie ein Hohngrinsen aus. »Denk einfach dran, dass du früher mal davon überzeugt warst, Thomas.« Er schob seine Unterlagen zusammen, als wolle er gehen, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Ich wollte dir mitteilen, dass alles bereit ist und unsere gesammelten Daten fast komplett sind. Etwas ganz Großes steht kurz bevor. Sobald wir den Masterplan haben, kannst du von mir aus mit deinen Freunden darüber jammern, wie schrecklich gemein wir euch behandelt haben.«
Thomas hätte den Mann am liebsten gewürgt, aber er hielt sich zurück. »Und wie soll es bitte schön zu diesem Masterplan beitragen, wenn Sie uns foltern? Wie um alles in der Welt soll es helfen, ein Heilmittel gegen eine tödliche Krankheit zu finden, wenn man unschuldige Jugendliche durch die Hölle gehen lässt?«
»Das hat alles mit dem Masterplan zu tun, glaub mir.« Rattenmann stieß einen Riesenseufzer aus. »Meine Güte, bald erinnerst du dich wieder an alles, und ich habe das dunkle Gefühl, dass du dann einiges hier bereuen wirst. Aber vorher muss ich dir noch etwas mitteilen – vielleicht kommst du dann endlich
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