03 - Schatten Krieger
Der Verfall langer Jahrhunderte und das unaufhörliche Vordringen der Pflanzenwelt war deutlich zu erkennen. Schutt und Mauerwerk wurden von Moosen und Gräsern überwuchert, Büsche und Kletterpflanzen verschleierten Fenster und Türen, zerbrochene Pfeiler erstickten unter Efeu oder Mauerdorn, und aus den Ruinen vieler Gebäude wuchsen Bäume, deren Äste Mauern umstießen und deren Wurzeln auf dem Weg ins Freie Bodenfliesen und Steine durchdrangen. Der Mogaun änderte seinen Kurs und schwebte auf ein gewaltiges, ovales Gebäude in der Nähe der Stadtmauer zu, das von den Resten eines rautenförmigen Walls umschlossen wurde, an dessen Enden sich zwei große, zylindrische Türme erhoben. Aufgrund seiner Lage wurde Ayoni klar, dass es sich bei diesem Bauwerk um den alten Kaiserlichen Palast handeln musste. Der neue Palast in Sejeend war teilweise nach seinem Vorbild erbaut worden. Von alten Zeichnungen und Gemälden wusste sie, wie er einst ausgesehen haben musste. Doch irgendwann nach dem Schattenkönig-Krieg war der Hohe Turm eingestürzt. Seine überwucherten Reste lagen zwischen dem nördlichen Teil der Feste und der Stadtmauer verstreut, auf die er gefallen war. Innerhalb der Palastmauern verbarg dichtes Gestrüpp die Reste der Zerstörung und die uralten Spuren jener furchtbaren Schlacht. Der alte Mogaun landete mit ihnen auf einem von Kletterpflanzen überwucherten Abschnitt zerborstener Feldsteine vor einer großen Arkade. Als der Schamane sie dorthin führte, glaube Ayoni eine blasse, nebelhafte Gestalt an einem der oberen Fenster entlanggehen zu sehen. Im nächsten Moment war sie jedoch verschwunden. Chellour runzelte die Stirn, als sie ihm und ihrem Führer hinterhereilte, doch sie hinderte ihn mit einem kurzen Kopfschütteln an einem Kommentar. Dann überholte sie den Schamanen und stellte sich ihm in den Weg.
»Welchen Zweck verfolgt Ihr damit, dass Ihr uns hierher bringt, Ehrwürdiger?«, fragte sie. »Wer hat Euch gesendet, uns zu holen?«
»Ich wurde von niemandem gesendet«, erwiderte der Mogaun scharf, während er um sie herumging. »Es war und es ist notwendig, Euch hierher zu bringen, auf dass Ihr fragt, antwortet und Zeuge werdet…« Sie gingen durch eine zerstörte Eingangshalle, die fast vollkommen von Schutt bedeckt war; große, von Flechten überzogene Mauerstücke und lange Bruchstücke einst mächtiger Pfeiler lagen verstreut auf dem Boden. Früher einmal hatte sich mitten im Saal eine gewaltige Treppe befunden. Ihr Sockel überragte den mit Moos bewachsenen Schutt immer noch. Die zerborstenen Stufen hoben sich scharf gegen den dunkelroten Abendhimmel ab. Der alte Mogaun durchquerte die Halle und führte sie in eine große Kammer dahinter. Auch hier war der Boden mit bemoostem Schutt übersät. Durch die Lücken der teilweise eingestürzten Decke konnte man den Nachthimmel sehen.
Die blasse, schwarzgewandete Gestalt einer jungen Frau saß auf einem der Trümmerstücke und schaute aus einem schmalen, hohen Fenster. Als sie eintraten, drehte sie sich herum und lächelte.
»Oh, Atroc! Und du hast Gäste mitgebracht!«
»Nur für kurze Zeit, Alael!«, erwiderte der Mogaun Atroc. »Sie kommen in einer schwerwiegenden Angelegenheit!«
Die Frau namens Alael nickte, als sie sich ihnen näherte. Sie wandte sich an Ayoni und Chellour. »Es geht gewiss um diese Fremden«, meinte sie. »Sie haben im Tagfried ihr Lager aufgeschlagen. Bardow ist sehr besorgt.«
»Wo ist der Erzmagier jetzt, Herrin?«, fragte Atroc.
»Ich sah ihn vor kurzem noch auf der Silbernen Aggor, wo er sich mit Yasgur unterhielt.«
»Dort habe ich ihn nicht gefunden. Vielleicht ist er ja im Nachtfried«, meinte Atroc. »Danke, Herrin.« Die junge Frau lächelte strahlend und schlenderte dann durch die zerstörte Kammer davon. Ayoni warf Chellour einen erstaunten Blick zu.
»Ist das wirklich … Königin Alael?«, fragte der Magier.
»Vielmehr Königin Alaels Geist?«, verbesserte ihn Ayoni. Sie versuchte, diese schlanke junge Frau mit den Gemälden in Einklang zu bringen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gesehen hatte. Sie zeigten eine strenge, befehlsgewohnte Frau, die immer die Königskrone trug und auf allen Porträts ein Schwert, einen Schild oder ein sonstiges Symbol des Kampfes trug. Alael war kurz nach dem Schattenkönig-Krieg gekrönt worden und hatte sich mit Chaos und Aufruhr herumschlagen müssen, die sich wie bösartiges Unkraut in Khatrimantine verbreitet hatten. In der Folge hatten einige entschlossene
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