03 - Tod im Skriptorium
diesen Gedanken auszusprechen, solange ihr älterer Vetter noch am Leben war.
Doch Colgú beendete ihren Satz mit einem bitteren Lachen.
»Dann werde ich König von Muman? Ja, genau das bedeutet es.«
Wie alle irischen Könige und Fürsten, waren die Eóganacht-Könige von den derbfhine ihrer Familien, das heißt von allen lebenden Nachkommen von einem gemeinsamen Urgroßvater, in dieses Amt gewählt worden. Beim Tode eines Königs kamen sie zusammen und wählten denjenigen von ihnen, der als nächster den Thron besteigen sollte. Es traten also nicht notwendigerweise die Söhne das Erbe des Vaters an. Failbe Fland, der Vater Colgús und Fidelmas, war König in Cashel gewesen. Er war vor sechsundzwanzig Jahren gestorben, als Fidelma und Colgú noch Kinder waren.
Um für irgendein Amt im Lande in Frage zu kommen, mußte der Kandidat jedoch mindestens das »Alter der Wahl« erreicht haben, das vierzehn Jahre für ein Mädchen und siebzehn Jahre für einen Jungen betrug. Failbe Flands Vettern waren ihm in seinem Amt gefolgt, bis man drei Jahre zuvor Cathal mac Cathail zum König von Muman gewählt hatte.
Es war Brauch und Gesetz, auch den Thronfolger, den tánaiste , schon zu Lebzeiten eines Königs zu bestimmen. Als Cathal König von Cashel wurde, hatte man Fidelmas Bruder Colgú zu seinem tánaiste gewählt.
Wenn also Cathal starb, würde er König von Muman werden, dem größten der fünf Königreiche von Éireann.
»Du übernimmst eine schwere Verantwortung, Bruder«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm.
Er seufzte und nickte langsam.
»Ja. Selbst in guten Zeiten sind mit dem Amt viele schwere Bürden verbunden. Aber jetzt sind die Zeiten schlecht, Fidelma. Das Königreich steht vor vielen Problemen. Das größte Problem ist erst vor wenigen Tagen aufgetaucht, und deshalb hatte Cathal nach dir geschickt, als er noch nicht so krank war. Seit du von hier fort bist, kleine Schwester, hat sich dein Ruf als Brehon, als Anwältin am Gericht und als Aufdeckerin von Geheimnissen weit verbreitet. Wir haben davon gehört, welche Dienste du dem Großkönig geleistet hast, dem König von Northumbrien und selbst dem Heiligen Vater in Rom.«
Fidelma machte eine abwehrende Geste.
»Ich befand mich zufällig an den Orten, wo mein Talent gebraucht wurde«, antwortete sie. »Jeder, der einen logischen Verstand besitzt, hätte die Probleme ebenso lösen können.«
Colgú lächelte sie an.
»Du warst noch nie eingebildet, Schwester.«
»Zeig mir eine eingebildete Person, und ich weise dir ihre Mittelmäßigkeit nach. Aber was hat das alles mit Forbassach von Fearna zu tun?«
»Das erfährst du gleich. König Cathal glaubte, du könntest ein Rätsel lösen, das die Sicherheit des Königreichs bedroht. Eigentlich bedroht es sogar den Frieden der fünf Königreiche von Éireann.«
»Welches Rätsel?« fragte Fidelma und machte sich an die Mahlzeit, die man für sie vorbereitet hatte.
»Hast du von dem Ehrwürdigen Dacán gehört?«
Fidelma hob leicht eine Augenbraue bei Nennung dieses Namens.
»Wer hätte das nicht?« erwiderte sie rasch. »In einigen Kreisen wird er schon als Heiliger betrachtet. Er ist ein Lehrer und Theologe von nicht geringen Fähigkeiten. Sein Bruder, der Abt Noé von Fearna, ist der persönliche Berater des Königs von Laigin und gilt als ebenso fromm wie sein Bruder. Beide genießen hohe Achtung und großes Ansehen. In vielen Gegenden der fünf Königreiche hört man von ihrer Weisheit und Mildtätigkeit.«
Colgú nickte langsam zu Fidelmas begeisterter Schilderung. Ein müder Ausdruck trat in sein Gesicht, als gefalle ihm nicht, was er da vernahm, er habe aber nichts anderes erwartet.
»Du weißt, daß es in letzter Zeit Feindseligkeiten zwischen den Königreichen Muman und Laigin gegeben hat?«
»Ich habe gehört, daß, seit vor ein paar Monaten der alte König Fáelán an der Pest gestorben ist, der neue König Fianamail Mittel und Wege sucht, sein Ansehen zu erhöhen, indem er Streit mit Muman anfängt«, stimmte sie zu.
»Und wie könnte er sein Ansehen besser erhöhen, als dadurch, daß er einen Anlaß findet, um von Muman die Rückgabe des Kleinkönigtums Osraige zu fordern«, stellte Colgú bitter fest.
Fidelma spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff der Überraschung.
Osraige war ein Kleinkönigreich, das seit langem die Ursache schlechter Beziehungen zwischen den beiden größeren Königreichen Muman und Laigin bildete. Es erstreckte sich in nordsüdlicher Richtung
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