030 - Bei den drei Eichen
ihres Stiefvaters zeigte sie sich allerdings so zurückhaltend wie nur möglich. Offensichtlich fürchtete sie den Mann, haßte ihn wahrscheinlich sogar in der Erinnerung an ihre unglückliche verstorbene Mutter.
Mandle besaß keine eigenen Kinder und schien auch nie welche entbehrt zu haben. Er verhielt sich dem jungen Mädchen gegenüber wie der Hausherr zu einem besseren Dienstboten; in der ganzen Zeit ihres Zusammenlebens hatte er nie die geringste Zärtlichkeit oder auch nur Rücksichtnahme gezeigt. Vor Jahren hatte er, einer Laune folgend, das Kind aus einem guten Internat weggeholt, mitten heraus aus einem netten Kreis gleichaltriger Mädchen. Er hatte die Kleine in die gespannte Atmosphäre von ›Waldfrieden‹ verpflanzt, in die Gesellschaft einer nervenkranken Frau und eines finsteren, unzugänglichen Mannes, der oft tagelang kein Wort sprach. Molly fühlte, daß er sie um das Glück, das die Schule ihr bedeutete, betrogen hatte; betrogen auch um die Ausbildung, durch die sie unabhängig hätte werden können, und betrogen um ihren Glauben an die Menschen.
»Sind die Zimmer fertig«?« fuhr Handle sie an.
»Ja, Vater.«
»Tu dein Bestes, um es unseren Gästen behaglich zu machen. Socrates Smith ist ein alter Freund von mir.«
Ein kleines Lächeln spielte um Mollys Mund.
»Socrates! Was für ein lustiger Name!«
»Wenn er ihm selbst gut genug ist, hat er es auch für dich zu sein!« fauchte John Mandle. Sie schwieg.
»Zehn Jahre habe ich ihn nicht mehr gesehen«, fuhr er fort, und seine Stieftochter wußte, daß er laut dachte; denn nie und nimmer würde er sich die Mühe genommen haben, mit ihr vertraulich zu reden. »Zehn Jahre ...! Ein heller Kopf... Ein großartiger Mensch!«
Molly versuchte noch einmal ein Gespräch anzuknüpfen.
»Er ist ein großer Detektiv, nicht wahr?« fragte sie und erwartete, wieder angefahren zu werden. Doch zu ihrer Überraschung nickte er.
»Der größte und geschickteste in der Welt - bestimmt jedenfalls in England. Und nach allem, was ich hörte, tritt sein Bruder in seine Fußstapfen.«
»Ist der Bruder noch jung?«
Ein kalter Blick schoß unter John Mandles zottigen Augenbrauen auf das junge Mädchen hervor.
»Fünfundzwanzig«, sagte er. »Und merk dir ein für allemal, daß ich keine Liebeleien dulde.«
Mollys hübsches Gesicht wurde rot; ihr rundes Kinn hob sich mit einem Ruck.
»Ich habe nicht die Gewohnheit, mit deinen Gästen Liebeleien anzufangen«, wehrte sie sich empört. »Warum sagst du mir so etwas?«
»Das genügt!« Er kniff die Lippen zusammen.
»Für dich, aber nicht für mich«, rief sie zornig. »Seit Mutters Tod habe ich deine Tyrannei ertragen - aber jetzt ist meine Geduld zu Ende. Ich halte es hier nicht länger aus!«
»Wenn es dir nicht mehr gefällt, kannst du ja gehen!«
»Das habe ich auch vor. Sobald deine Gäste abgereist sind, gehe ich nach London, um zu arbeiten.«
»Da wird was Gutes draus werden!« spottete er, ohne den Kopf nach ihr zu wenden. »Was kannst du denn?«
»Durch deine Schuld kann ich gar nichts. Hättest du mich auf der Schule gelassen, hätte ich wenigstens soviel gelernt, um selbst mein Brot verdienen zu können.« Ein höhnisches Lachen antwortete ihr.
»Du redest Blech, Molly. Vergiß nicht, daß du keinen Pfennig erbst, wenn du mich vor meinem Tode verläßt.«
»Ich will dein Geld gar nicht - ich habe es nie gewollt!« rief sie erregt aus. »Meine Mutter vermachte mir ein paar Schmucksachen ...«
»Die ich ihr gekauft habe«, unterbrach er sie. »Sie hatte nicht das Recht, sie dir zu vermachen.«
»Bis heute habe ich ja noch nichts davon gesehen.«
Molly wandte sich um und ging zur Tür, als er sie zurückrief.
Noch nie hatte seine Stimme so gutmütig geklungen, und bei dieser unerwarteten und ungewohnten Sanftmut zögerte sie unwillkürlich.
»Molly, du mußt Nachsicht mit mir haben - ich bin ein sehr kranker Mann!«
Sie wurde weich.
»Es tut mir leid, Vater. Schmerzen deine Knie sehr?«
»So sehr, daß ich nicht stehen kann«, ächzte er. »Gerade jetzt, wo ich einen alten Freund erwarte, meldet sich der verdammte Rheumatismus wieder und wird mich wohl eine Woche ans Bett fesseln . . . Schick mir gleich die Leute mit dem Rollstuhl; ich will in mein Arbeitszimmer.«
Mit Hilfe von Kammerdiener und Gärtner wurde John Mandle in den großen luftigen Raum gebracht, den er an das Haus angebaut hatte und in dem er arbeitete und zuweilen schlief, wenn rheumatische Anfälle ihm das
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