0315 - Wenn der Totenvogel schreit
hätte nie damit gerechnet, dass Sie so kindisch reagieren.«
»Unsere Angst wäre verschwunden«, erklärte Lucy.
»Welche Angst?«
»Die vor dem Totenvogel.«
Der Baron schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Hören Sie mir damit auf!« Er war ziemlich wütend. So hatten die Finleys ihn noch nie erlebt.
Beide erschraken, während Harry versuchte, erst einmal einzulenken. »Wir haben uns auch noch nicht entschlossen, Sir. Es ist nur heute morgen das Gespräch darauf gekommen.«
»Anders habe ich es auch nicht gesehen.« Der Baron wechselte das Thema. »Natürlich muss mein Gärtner ersetzt werden. Wissen Sie jemand, der die Aufgabe übernehmen könnte?«
»Nein, Sir.«
»All right, Finley, dann werde ich zusehen, dass ein anderer die Stelle bekommt. Bis es allerdings soweit ist, werden Sie einen Teil der Aufgaben übernehmen. Schaffen Sie das?«
»Ich denke schon, Sir.«
»Dann können Sie heute anfangen. Sie wollten doch in den Forst fahren, oder nicht?«
»Das hatte ich vor, Sir.«
»Gut, ich nehme Sie mit.«
Lucy Finley wollte etwas sagen, denn mit dieser Lösung war sie nicht einverstanden. Wenn ihr Mann jetzt mitfuhr, sah sie ihn vor dem Abend nicht wieder, und das passte ihr an einem Wochenende überhaupt nicht.
Harry war schon aufgestanden. Er kuschte. Vielleicht mussten sie auch kuschen, denn der Baron hatte das Geld und die Macht. Da gab es im Prinzip kaum einen Unterschied zu früher. Nur war es heutzutage nicht so offensichtlich.
»Ich hole nur meine Kleidung, Sir«, sagte Finley.
»Beeilen Sie sich!« Der Baron war schon in den Flur gegangen und wartete nahe der Haustür.
Vom Flur aus führte auch eine Treppe nach oben. Dort waren Schritte zu hören.
Jeff kam. Er ging sehr schnell, ließ die erste Wendel hinter sich und sah den Baron.
Der Junge blieb stehen.
»Was ist?« fragte Lucy nach einigen Sekunden. »Kannst du nicht grüßen?«
Jeff verzog das Gesicht. Er sah noch müde aus. Der Schlafanzug war zu dünn. Der Junge fror, aber nicht nur wegen der Kälte. Plötzlich streckte er einen Arm aus. »Wer… wer ist das?«
»Das ist der Duke of Hanlock«, erwiderte sein Vater.
»Nein!« Jeff schüttelte den Kopf. »Das ist kein Mensch«, fing er an zu schreien. »Das ist kein Mensch. Niemals. Das ist… das ist …« Er holte tief Luft. »Das ist der Totenvogel!«
***
Wir waren unterwegs.
Ein herrlicher Wintertag lag vor uns. Eigentlich zu schade, um im Wagen zu sitzen, da hätte man lieber spazieren gehen sollen, aber dazu war die Strecke einfach zu weit.
Ich hatte noch Nachforschungen über den Toten anstellen lassen.
Ernest Ragg arbeitete noch immer bei einem gewissen Duke of Hanlock, einem Adeligen alter Schule, wie mir Lady Sarah versichert hatte, denn sie kannte sich auch in den englischen Adelsgeschlechtern aus. Da glich sie auch einem wandelnden Lexikon.
Der Duke war der letzte Spross seiner Familie. Er besaß keine Nachkommen mehr. Wenn er starb, war auch das Geschlecht der Hanlocks ausgestorben.
In den Akten hatte ich nichts von ihm gefunden. Lady Sarah konnte mir auch nicht viel über seinen Lebenswandel sagen. Zudem hatte sie noch nie Kontakt mit ihm gehabt.
»Er wird Augen machen, wenn wir ankommen«, sagte die alte Dame. Sie saß neben mir und schaute nach vorn durch die breite Frontscheibe des Bentley.
»Das sicher.«
London lag längst hinter uns. Wir fuhren durch eine winterliche Landschaft. Auch tagsüber waren die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt gesunken. Vor zwei Tagen hatte es noch geschneit.
Wegen der Kälte war der Schnee liegengeblieben. Rechts und links der Straße lag er auf den Feldern. Er bildete dort eine weiße Schicht.
Hin und wieder schimmerte auch das dunkle Braun der Erde durch.
Im März kriecht die Sonne schon höher über den Horizont hinweg. Sie stand für mich ungünstig und schien genau durch die breite Scheibe des Bentley. Aus diesem Grunde hatte ich auch eine Sonnenbrille aufgesetzt.
»Welchen Grund willst du eigentlich für unseren Besuch nennen?« fragte Lady Sarah.
Ich hob die Schultern. »Das ist nicht schwer. Ich werde von einigen Ungereimtheiten beim Tod des Mannes sprechen. Da er keine näheren Verwandten hatte, musste ich mich eben an seinen Arbeitgeber halten. Das wird schon klappen.«
»Und wie erklärst du mich?«
Ich lachte. »Ich gebe dich als Freundin aus…«
»Mich alte Schachtel?« rief Lady Sarah. »Nein, dann schätzt mich der Baron noch falsch ein.«
»Weißt du eine bessere
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