033 - Der Frosch mit der Maske
durch die offene Tür in die Todeskammer, folgte ihm, schlug die Tür zu und verriegelte sie.
Ray sah das baumelnde gelbe Seil, das Zeichen auf der Falltür, und taumelte bebend gegen die Mauer, die Augen geschlossen.
Dann zerhieb John Bennett das Seil, zerhieb es, daß die Stücke zu Boden fielen. Es gab einen Krach, die Falltüren öffneten sich, und in die gähnende Öffnung schleuderte er das abgeschnittene Seil. Ray starrte ihn fassungslos an. Und während die Schläge gegen die Tür donnerten, kam der Alte auf ihn zu, nahm sein Gesicht in die Hände und küßte ihn.
»Kannst du mir vergeben, Ray?« fragte er gebrochen. »Ich mußte es tun. Ich verhungerte beinahe, bevor ich mich dazu hergab. Ich war gerade aus einer medizinischen Schule gekommen, und die Sache schien mir nicht so schrecklich. Ich versuchte alle möglichen Berufe, um Geld zu verdienen, und lebte mein ganzes Leben in Angst, daß jemand mit dem Finger auf mich zeigen und sagen würde: ›Da geht Ben, der Scharfrichter!‹«
»Ben, der Scharfrichter?« fragte Ray verwundert. »Du bist Ben?«
Der Alte nickte.
»Kommen Sie heraus, Ben. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Hinrichtung auf morgen verschieben werde. Ihr könnt nicht hierbleiben!«
John Bennett sah auf das abgeschnittene Seil. Die Hinrichtung konnte nicht ausgeführt werden, denn es gab eine Vorschrift, die verlangte, daß ein völlig ungebrauchtes Seil vom Polizeidirektionsgefängnis geliefert werden mußte. Die gesamte Ausrüstung der Hinrichtung, bis auf das Stück Kreide, mit dem das T auf die Klappe gezeichnet wurde, auf das der Mann seine, Füße stellen sollte, mußte genauestens aus dem Hauptgefängnis gebracht und ebenso genau zurückgestellt werden.
John Bennett zog den Riegel zurück und trat hinaus.
Die Gesichter der Leute in der Gefangenenzelle waren geisterbleich.
Der Gefängnisarzt schien zusammengeschrumpft, der Sheriff saß auf dem Bett und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.
»Ich werde nach London telegraphieren und die Umstände mitteilen«, sagte der Direktor. »Ich verdamme Sie Ihrer Handlungsweise wegen nicht, Ben, es wäre ungeheuerlich, zu erwarten, daß Sie das vermocht hätten!« Ein Wärter kam den Gang herabgerannt. Hinter ihm hinkte ein barhäuptiger, staubbedeckter Mann, mit zerkratztem Gesicht, über das vertrocknete Blutstreifen hinliefen, die Augen rotgeschwollen vor Müdigkeit. Eine Minute lang erkannte ihn John Bennett nicht.
»Aufschub von des Königs eigener Hand«, stammelte Dick Gordon schwankend und überreichte das blutbefleckte Kuvert dem Direktor.
39.
Während des ganzen Tages lag Ella Bennett halb wachend, halb im Schlaf. Sie erinnerte sich später, daß der Arzt gekommen war und sie auf Elks flehentliche Bitte das zubereitete Getränk zu sich genommen hatte. Und obgleich sie vermutete, was es war, und sich dagegen wehrte, den milchweißen Trank einzuschlürfen, hatte sie schließlich nachgegeben. Sie war durch den innerlichen Kampf, den sie geführt hatte, um ihren gesunden Verstand zu bewahren, völlig erschöpft.
Als ihr Bewußtsein zurückzukehren begann, fühlte sie, daß sie in einem Bett lag und daß jemand ihr die Schuhe ausgezogen und ihr Haar gelöst hatte. Es kostete sie eine entsetzliche Anstrengung, die Augen zu öffnen, und sie sah, daß eine Frau am Fenster saß und las. Das Zimmer war sichtlich das eines Mannes und roch schwach nach Rauch.
»Dicks Bett!« murmelte sie. Die Frau legte ihr Buch hin und stand auf.
Ella sah sie verwundert an. Warum trug sie nur die weiße Haube um ihr Haar und die blaue Jacke mit den weißen Manschetten? Ach, natürlich, sie war eine Pflegerin. Zufrieden, dieses Problem gelöst zu haben, schloß Ella die Augen und verlor sich wieder in das Land der Träume.
Sie erwachte nochmals. Die Frau war noch da, aber diesmal war Ellas Geist völlig klar. »Wie spät ist es?« fragte sie.
Die Pflegerin kam mit einem Glas Wasser zu ihr, das Ella gierig trank.
»Es ist sieben Uhr«, sagte sie.
»Sieben?« Ella schauderte und versuchte, mit einem Aufschrei aufzustehen. »Es ist Abend!« stammelte sie. »Was ist geschehen?« fragte sie dann.
»Ihr Vater ist unten, Fräulein«, sagte die Pflegerin, »ich werde ihn rufen.«
»Vater ist hier?« Sie runzelte die Brauen. »Herr Gordon ist auch unten und Herr Johnson!« Die Frau führte getreulich die Instruktionen, die man ihr gegeben hatte, aus.
»Sonst niemand?« fragte Ella flüsternd.
»Nein, Fräulein, der andere Herr kommt
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