0334 - Der Hexenspiegel
fleischliche Hülle.
Aber sie konnte nicht jeden beliebigen Körper nehmen. Er mußte eine ganz bestimmte Aura aufweisen, die ihr Einfahren erleichterte, und er mußte magisch neutral sein. Beides zusammen kam unter hunderttausend Menschen bei einem einzigen vor. Nadija hatte lange gesucht, bis sie auf Stana Ilonkin gestoßen war.
Er war der geeignete Körper.
So hatte sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut. Mit Hexenkunst gaukelte sie ihm Jugend und Schönheit vor, und er hatte sich täuschen lassen.
Sie hatte alles vorbereitet, seine Seele ihrem Herrn, dem Teufel versprochen, und dieser hatte eingewilligt. Er war an Ilonkins Seele interessiert, und er würde sie bekommen, sobald Nadija sie aus seinem Körper verdrängte.
Aber es war mißlungen. Im letzten Moment hatte Stana sich gewehrt.
Sie hatte, um die Seelentauschbeschwörung durchführen zu können, ihre Maske fallen lassen müssen. Sie hatte alle Kraft für die Beschwörung gebraucht. Und sie hatte nicht ahnen können, daß er, der magisch neutral war, dennoch genug über die Abwehr gegen Hexen und Zauberer wußte. Mit dem blutigen Dolch hatte er sie getroffen und ihren Zauber zerstört.
Es war vorbei.
Sie würde schwerlich Ersatz für Stana Ilonkin bekommen. Wahrscheinlich würde sie also sterben müssen. Oder sie mußte ein Tier finden, das ihren Bedürfnissen entsprach, und als Tier dann wieder auf Menschenjagd gehen, um einen neuen menschlichen Körper zu gewinnen, gleichgültig, ob Mann oder Frau.
Hauptsache, jung.
Mühsam raffte sie sich auf. Sie mußte den Dolch langsam entfernen und ebenso langsam und vorsichtig dieWunde schließen, die er gestoßen hatte. Sie wünschte Ilonkin die Pest auf den Hals, aber ihre Kraft reichte jetzt nicht mehr, ihm den Fluch wirksam nachzuschleudern.
Aber dann geschah etwas anderes.
Der Teufel kam.
Er fuhr durch den Kamin ins Haus ein und trat aus dem Feuer hervor.
Eine Schwefelwolke wehte ihm voraus und warf die verletzte, dem Tode nahe Hexe förmlich zurück. Der Gehörnte entfaltete seine Flügel wieder, der Schweif mit der Glutspitze zuckte hin und her, bereit in Brand zu setzen, was ihm in die Quere kam. Zornig stampfte der Teufel mit dem Huf auf.
»Du versprachest mir eine Seele, erbärmliche Hexe«, grollte er dumpf.
»Wo ist sie, diese Seele? Wo ist der Mensch, in dessen Körper du schlüpfen wolltest? Wo ist Stana Ilonkin?«
»Fort, geflohen, Herr«, keuchte Nadija Perkowa. »Sieh seinen Dolch in meiner Brust. Er versuchte mich zu töten. Der Bann brach…«
»Du bist eine Stümperin«, zischte der Teufel. »Wie eine blutige Anfängerin hast du dich benommen, Fehler begangen trotz deiner fast tausendjährigen Erfahrung! Ich glaube gar, du wirst alt, Nadija Perkowa!«
Und wieder stampfte er mit dem Huf.
»Was liegt Euch schon an dieser Seele, Herr?« wimmerte die Hexe.
»Es gibt tausende von Seelen, die Ihr haben könnt. Ich werde sie Euch beschaffen…«
Er machte einen Schritt auf sie zu.
»Was mir an dieser Seele liegt, fragst du, du Stümperin? Viel, sehr viel! Weißt du nicht, wer Stana Ilonkin ist? Der Sohn eines Adligen bei Hofe! Wärest du in seinen Körper geschlüpft, hättest du großen Einfluß auf den Zaren und seine Familie nehmen können! Denn Stanas Vater ist dem Zaren ein guter Freund! Großes hatte ich mit dir vor. Du hättest die Macht über ganz Rußland haben können, die Macht als engster Berater des Zaren! Doch nun ist dir diese Karriere verwehrt. Er selbst wird aufsteigen oder fallen, wahrscheinlich fallen, denn er hat nicht deine Größe und deine Jahrtausenderfahrung! Vorbei, vertan…«
»Herr…«, wimmerte die Hexe. »Ich wußte nicht…«
»Du hättest es wissen müssen mit deiner Kunst, die ich dir einst schenkte! Aber du warst zu leichtfertig, zu oberflächlich! Nun, du wirst nie wieder einen solchen Fehler begehen!«
»Bestimmt nicht«, schluchzte sie. »Ich werde diesen Fehler wiedergutmachen, ich werde…«
»Nichts wirst du«, sagte der Teufel. »Nichts, du Relikt der Vergangenheit. Wohl oder übel werde ich mich weiter auf Rasputin verlassen müssen, doch Rasputin ist ein unsicherer Mann, er geht seinen eigenen Weg, spielt sein eigenes Spiel. Nun, das ist eine Sache, die dich nichts angeht.«
Er trat direkt vor sie.
»Was habt Ihr vor, Herr?« kreischte sie angstvoll.
Der Teufel lachte zornig auf. Sein Schweif mit der Glutspitze fuhr heran, berührte die uralte Hexe und riß ihr die Seele aus dem Leib. Er schleuderte sie durch die Luft und bannte sie
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