0334 - Der Hexenspiegel
in den Spiegel über dem Kamin. Ein schauerlicher Klagelaut schwang durch das Haus und verwehte.
Das Spiegelglas wurde ein wenig matter. Die Hexe war darin gefangen, für immer und ewig und alle Zeiten. Eine furchtbare Strafe für ihr Versagen, eine Strafe, wie sie sich nur der Teufel erdenken kann…
Der Leib der Hexe aber zerfiel zu feinkörnigem Staub.
Und der Teufel verließ diese Stätte des Grauens wieder. Er schwang sich durch den Kamin in die Lüfte empor und entschwand mit wuchtigen Schlägen seiner lederartigen Schwingen in den Nachtwolken.
***
Etwa siebzig Jahre später wurde das Haus dem Erdboden gleichgemacht.
Vergessen war die Zeit des Zaren, tot waren Nikolaus II. und der teuflische Wundermönch Rasputin. Vergessen war auch die Hexe Nadija Perkowa, deren Seele vom Teufel in einen Spiegel gebannt worden war.
Das Haus war der Verbreiterung der großen Überlandstraße im Wege, die vom ehemaligen Petersburg, das jetzt Leningrad hieß, nach Moskau führte.
Als die Arbeiter das Haus betraten, das seit Jahrzehnten leerstand und dessen früherer Besitzer oder dessen Erben nicht mehr festzustellen waren, umwehte sie ein Hauch der Düsternis und der Bedrohung. Sie waren froh, als sie wieder im Freien standen. Aber es hatte sich gelohnt. Wassil Wassilowitsch schleppte einen alten Schrank zu sich nach Hause, Pjotr Kobiniakin dagegen einen Spiegel, dessen Glasfläche seltsam trüb war, aber dessen Rahmen mit Blattgold beschichtet war. Allein der Rahmen war eine Kostbarkeit für sich.
»Schlag doch das Glas kaputt, das kann doch sowieso niemand mehr benutzen, Genosse Kobiniakin«, riet ihm der Vorarbeiter der Kolonne, der sich an anderen Kostbarkeiten schadlos gehalten hatte. »Dann brauchst du nicht so vorsichtig mit ihm umzugehen.«
Aber Kobiniakin zerschlug das Spiegelglas nicht. Er nahm das wertvolle Stück heil mit nach Hause, und er konnte es für 500 Rubelchen verkaufen.
Die 500 waren ein Handgeld, mehr nicht, wenn man den wahren Wert des Spiegels in Betracht zog, aber für Kobiniakin reichte das Geld aus, endlich den altersschwachen Moskwitsch zu kaufen, der zwar schon aus fast allen Schrauben und Schweißnähten platzte, aber immerhin ein Autochen war. Und es fuhr, das Autochen, und Pjotr Kobiniakin brauchte jetzt nicht mehr mit dem Fahrrad zur Sammelstelle zu strampeln, wo ihn der Arbeiterbus abholte, um ihn zur jeweiligen Baustelle zu bringen, sondern Kobiniakin konnte jetzt mit dem eigenen Autochen zur Baustelle fahren, und die Nachbarn staunten, weil er im Dorf nach dem Genossen Ortsvorsteher der einzige war, der so ein Autochen besaß. Kobiniakin war plötzlich jemand, zwar ein Arbeiter, aber ein hochangesehener, reicher Bürger, der sich ein Autochen leisten konnte.
Der den Spiegel kaufte, kümmerte sich nicht darum. Er hatte das gute Stück günstig bekommen, den Verkäufer gehörig übers Ohr gehauen, und reihte den Spiegel seiner Sammlung von Antiquitäten, Raritäten und Kostbarkeiten ein.
Fortan, so sagte man, ging es im Hause dieses Sammlers nicht mehr mit rechten Dingen zu. Bilder fielen von der Wand, Lampen gingen grundlos an und aus, und wer zu Besuch kam, war froh, wenn er wieder gehen konnte, so bedrückend war die Atmosphäre innerhalb der vier Wände.
Gut zehn Jahre konnte sich Sergej Publikow an seinen Schätzen noch erfreuen, dann starb er, weil ihm bei einem Herbststurm ein vom Baum abgerissener Ast auf den Kopf fiel und sich das Holz als wesentlich stabiler erwies als der russische Dickschädel. Der Spiegel stand auf dem Dachboden und verstaubte schon seit langem.
Man schrieb inzwischen das Jahr 1987…
***
Das Hospital von Leicester war, wie Nicole Duval sich ausdrückte, »klinisch tot«. Es herrscht eine geradezu ungewöhnliche Ruhe. An den weißgetünchten Wänden hingen farblos blasse Bilder moderner Neonkünstler, ganz entgegen aller britischen Tradition, alles strahlte vor Sauberkeit und Sterilität – nicht nur im biologischen, sondern auch im übertragenen Sinne. Nicole fühlte sich in diesem Krankenhaus nicht wohl.
Sie war froh, daß Zamorra und sie nur als Besucher hier waren. Seit einigen Tagen war ihr gemeinsamer Freund Ted Ewigk hier Patient. Auch jetzt sah er noch blaß aus und hing noch an den Instrumenten und Apparaten, die ihn künstlich ernährten, seinen Kreislauf stabil hielten und die Herz- und Gehirntätigkeit überwachten. Immerhin ging es ihm schon etwas besser als bei der Einlieferung.
»Trotzdem spüre ich meinen Körper immer noch
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