0354 - Gruft der wimmernden Seelen
Rücken der Chinesin. Als der Apparat das viertemal angeschlagen hatte, hob Shao den Hörer ab und preßte die eine Seite gegen ihr Ohr. Sie sagte nicht ihren Namen, sondern nur ein fragendes »Ja?«
Ich stand am Tisch und konnte sie ansehen. Was der Anrufer sagte, verstand ich nicht, ich hörte nur am Klang der quäkigen Stimme, daß es sich bei ihm um einen Mann handelte.
Und ich sah Shaos Gesicht!
Es war schon zuvor blaß geworden. In den nächsten Sekunden wurde es noch blasser, so bleich hatte ich es selten gesehen. Suko hatte sicherlich nicht angerufen, ich aber wollte wissen, wer da mit Shao sprach. Sie war kaum in der Lage, mir dies von allein zu berichten, aus diesem Grunde ging ich hin und nahm ihr den Hörer aus der allmählich nach unten sinkenden Hand.
»Wer ist da?« Noch auf dem Weg zum Ohr sprach ich die Worte in die Muschel.
Worte vernahm ich nicht. Dafür ein dröhnendes Gelächter, das gleichzeitig kalt und widerlich klang und auf meinem Rücken einen Schauer hinterließ.
»Los, melden Sie sich!« forderte ich.
»Sinclair?«
Er kannte sogar meinen Namen. Leider wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte.
»Ja, der bin ich.«
»Ich habe ihn.«
Zwar wußte ich, von wem er sprach, fragte trotzdem nach. »Wen meinst du, Unbekannter?«
»Deinen Freund Suko.«
»Und?«
»Willst du ihn nicht zurückhaben?«
»Ich rede nicht mit mir unbekannten Personen.«
Wieder hörte ich ein Lachen, das mir gar nicht unbekannt war, denn in der Vergangenheit hatte ich das Geräusch schon öfter vernommen. »Kannst du dir nicht denken, wer sich die Ehre gibt, dich anzurufen? Ich bin der letzte der Großen Alten.«
In meinem Magen spürte ich den Aufruhr. »Der Spuk!« stieß ich hervor.
»Genau der.«
Und er hatte Suko. Verdammt, die Karten waren auf einmal sehr schlecht gemischt. In Sekundenschnelle jagte mir einiges durch den Kopf. Ich erinnerte mich wieder daran, wie ich Suko in der Astgabel hatte liegen sehen. Bewegungslos, wie tot, und ich wußte auch, daß in meiner Wohnung seine Waffen lagen, die mir der Eiserne Engel mit auf den Weg gegeben hatte.
Aber wie kam der Spuk an Suko?
Er schien meine Gedanken erraten zu haben, da er von selbst auf das Thema zu sprechen kam. »Es war nicht einfach, deinem Freund das Leben zu retten«, sagte er mir. »Er befand sich bereits auf dem Weg zu Lilith, und die sollte dir ja bekannt sein, Geisterjäger.«
»Das ist sie.«
»Wie schön. Da ich ein Freund der Menschen bin«, erklärte er voller Spott, »konnte ich es nicht zulassen, daß Suko so mir nichts dir nichts in der Hölle verschwindet. Ich setzte meine eigene Existenz aufs Spiel, um deinen Freund zu retten, Sinclair. Überlege mal, denke darüber nach. Das habe ich für euch getan.«
»Wie gütig!« spottete ich.
»Das kannst du wohl sagen. Meine eigene Existenz habe ich dafür aufs Spiel gesetzt«, wiederholte er. »Ist das nicht etwas Unwahrscheinliches!«
»Rede weiter.«
»Mehr ist nicht zu sagen. Ich wollte euch nur mitteilen, daß ihr euch keine Sorgen zu machen braucht. Sonst alles klar?«
Natürlich war nichts klar, aber der Spuk verspürte kein Interesse mehr daran, das Gespräch fortzuführen, denn er unterbrach die Verbindung. Ich legte ebenfalls den Hörer hin und drehte mich zu Shao um.
Sie hatte wieder Platz genommen, schaute mir entgegen, und ich sah die Angst in ihrem Blick.
Ich winkte ab. »Er lebt!« erklärte ich.
»Wirklich?«
»Ja.« Mein Lächeln fiel dennoch krampfhaft aus. »Das ist erst einmal am wichtigsten.«
Plötzlich sprang Shao auf. Sie kam zu mir, faßte mich an und wollte wissen, wer der Anrufer gewesen war und was er mir alles mitgeteilt hatte.
Ich erklärte es ihr. Es hatte ja keinen Sinn, Shao die Wahrheit zu verschweigen, und sie nahm die Tatsache auch ziemlich gelassen hin. Einige Male nickte sie sogar. Ihre Sorgen waren so groß gewesen, daß sie jetzt die neuen als geringer einstufte.
Das fand ich gut.
»Möchtest du nun einen Schluck trinken?«
»Ja!« hauchte sie und nahm das Glas zum zweitenmal in die Hand. Jetzt ging alles gut. »Da wäre Suko fast in der Hölle gelandet und für immer verschwunden!« flüsterte sie. »Ich kann es einfach nicht fassen. Aber was ist nun?«
Ich hob die Schultern.
»Der Spuk ist auch gefährlich, nicht wahr?«
»Das kannst du laut sagen.«
»Wird der ihn töten?«
»Wir wollen nicht gerade mit dem Schlimmsten rechnen, Shao. Wenn er ihn hätte töten wollen, hätte er ihn erst gar nicht zu retten brauchen,
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