0354 - Gruft der wimmernden Seelen
wenn du verstehst.«
»Das ist mir klar.«
»Demnach hat er etwas anderes mit ihm vor.« Ich schüttelte den Kopf. »Dabei frage ich mich, aus welchem Grunde er angerufen hat. Kannst du ihn mir nennen, Shao?«
»Nein, wie sollte ich.« Sie schluckte. »Vielleicht hat er uns in einem Anfall von Großmut Bescheid gegeben. Und überhaupt, wie ist es einer Gestalt wie dem Spuk möglich, über Telefon zu sprechen. Er ist doch nur mehr eine Wolke.«
»Vergiß nie, Shao, daß du es mit einem Dämon zu tun hast. Der Spuk ist nicht normal, er ist der Namenlose, der letzte Große Alte, das haben wir alle nicht gewußt. Und er hat Macht, zudem das Wissen einer längst vergangenen Zeit. Wir werden mit ihm noch einiges erleben, das kann ich dir sagen.«
»Und Suko auch, nicht?«
»Davon müssen wir ausgehen.« Ich hatte mich gesetzt und begann zu grübeln. Aus reiner Menschenliebe holte der Spuk keinen seiner Gegner aus der Hölle oder rettete ihn aus Gefahr. Das war einfach nicht drin, da mußten wir realistisch sein. Wenn er so etwas tat, verfolgte er auch einen ganz bestimmten Plan.
Vielleicht rechnete er mit Sukos Dankbarkeit ihm gegenüber, obwohl es das nicht gab. Wir waren keinem Dämon dankbar, und umgekehrt verhielt es sich auch so.
Das konnten wir also schon abhaken.
Was war es dann?
Shao sah mein angespanntes Gesicht und erkundigte sich, worüber ich nachdachte.
Ich erklärte es ihr, und sie begann zu lächeln. »Das wirst du doch nicht herausfinden, John.«
Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und ließ die Whiskygläser hüpfen. »Doch, zum Teufel, das werde und muß ich herausfinden, denn darin liegt die Lösung.«
»Kannst du Suko denn wieder zurückholen?« wollte sie wissen.
»Wenn ich weiß, wo er und der Spuk stecken.«
»Das kann überall sein.«
»Nein, Shao, das glaube ich nicht. Es gibt da einen Hinweis, den wir übersehen haben. Ich kenne den Spuk, ich kenne ihn lange, nur wußte ich nicht, daß er der Namenlose war. Er hatte sich bisher so raffiniert verborgen gehabt und auf die andere Seite gestellt, daß es schon an eine schauspielerische Leistung grenzte. Bisher kannten wir ihn nur als Herrscher im Reich der Schatten, und ich meine trotz allem, daß er einen Namen besitzt, einen so gut wie unaussprechlichen. Das ist mir klargeworden, als ich zum erstenmal Kontakt mit ihm bekam.«
»Wo war das denn?«
Ich winkte ab. »Die Geschichte liegt unheimlich lange zurück. Es war auch nicht hier in London, sondern in New York. Damals ging es um ein geheimnisvolles Horror-Taxi, und in dem Fall erschien der Spuk zum erstenmal. Da habe ich auch was von einem Namen gehört, ihn jedoch wieder vergessen, weil er so gut wie unaussprechlich ist.« [2]
»Hat das denn etwas mit dem jetzigen Fall zu tun?« erkundigte sich die Chinesin.
»Nein, eigentlich nicht. Entschuldige, bitte! Fünf Große Alte sind vernichtet, der Spuk ist übriggeblieben, und er hat Suko. Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden. Weshalb hat er deinen und meinen Freund gerettet? Das muß einen Grund haben!«
»Ich weiß ihn nicht.«
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich schnickte plötzlich mit den Fingern, und das war gewissermaßen für Shao und mich ein Signal.
»Was ist denn, John?«
»Ich weiß es. Ja, ich weiß, aus welchem Grund der Spuk sich an Suko herangemacht und ihn gerettet hat.« Scharf schaute ich Shao an. »Dir ist doch klar, was er in seinen Besitz bringen will – oder nicht?«
»Nein, im Moment… ich bin zu durcheinander?«
»Es geht um den Würfel des Unheils. Dafür lebt er gewisserma ßen, ihn will er haben. Danach strebt sein Sinnen und Trachten. Der Würfel ist am wichtigsten. Alles andere kannst du vergessen. Daß er ihn bisher noch nicht bekommen hat, dafür gibt es einen triftigen Grund. Mag er noch so mächtig und gefährlich sein, auch ihm sind Grenzen gesetzt. Und die haben ihren Namen. Es sind die Klostermauern von St. Patrick. Die versperren ihm alles, sie kann er nicht überwinden…«
»Aber Suko!« fiel Shao ins Wort.
»Genau, meine Liebe. Suko kann in das Kloster hinein, und wie ich ihn kenne, wird ihn der Spuk zwingen, das Kloster zu betreten und den Würfel an sich zu nehmen.«
Shao preßte ihre Hände gegen die Brust. »Mein Gott, das wäre ja schrecklich.«
Ich lachte hart auf und stand schon am Telefon. »Das wäre nicht nur schrecklich, das ist schrecklich. Aber der Spuk hat einen Fehler gemacht.«
»Welchen?«
»Es war sein Anruf. Er ist…«
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