0354 - Mordmotiv nach Maß geschneidert
Er war zwanzig Jahre alt und verzweifelt.
In einer nebligen Nacht schlich er auf die Brooklyn Bridge und kletterte über das Geländer. Bevor er springen konnte, hatte ich ihn am Kragen gepackt.
»Was soll der Unsinn, Junge?«
Er schlug wild mit den Füßen um sich, wollte mir die Ellenbogen gegen die Brust drücken, aber ich hielt ihn fest umklammert.
Aus dem Nebel trat Diana Walker auf uns zu. Ich war mit ihr, der reizenden Polizistin von der City Police, zufällig über die Brooklyn Bridge gegangen, als ich durch den Nebel hindurch eine Gestalt über das Geländer klettern sah.
Es gelang Diana, den Jungen zu beruhigen. Er hatte rotblondes, volles Haar, sympathische Gesichtszüge, tiefblaue Augen.
»Komm, wirtrinken einen«, schlug sie vor, und der Junge folgte uns.
***
Eine halbe- Stunde später waren wir in einer kleinen Kneipe auf der Manhattanseite, in die man eine junge Frau wie Diana bringen konnte.
Wir nahmen den Jungen in unsere Mitte und setzten uns an einen Tisch in der äußersten Ecke der Kneipe.
Da Diana und ich Hunger hatten, bestellten wir uns was zu essen. Der Junge wollte nichts, doch auf unser Drängen würgte er ein paar Bissen herunter.
Die Garderobe des Jungen, abgesehen davon, dass sie schmutzig und nass war, ließ auf guten Geschmack und nicht unvermögenden Eltern schließen.
Ein Collegeboy aus guter Familie, tippte ich.
Nach dem Essen bot ich Diana und dem Jungen eine Zigarette an.
»Danke, ich rauche nicht«, sagte er.
»Wie alt bist du?«, fragte ich.
»Im September wurde ich zwanzig.«
Es dauerte eine Weile, bis wir etwas aus ihm herausgeholt hatten. Aber als ich ihn nach seinem Namen fragte, sah er mich verzweifelt an. »Muss ich das sagen?«, murmelte er.
»McGuir«, sagte er dann kaum verständlich, nachdem ich ihn weiter erwartungsvoll ansah.
»Ich bin ein Enkel von Victoria Seabrook.«
»Donnerwetter«, entfuhr es Diana. Auch ich war überrascht. Einer aus dem Seabrook-Clan, ein Boy aus der Park-Avenue, wo die »großen Familien«, wohnen.
»Mensch, Junge! Und du willst in den East River?«
Diana, die in den letzten Minuten ein nachdenkliches Gesicht gemacht hatte, sagte: »War da nicht etwas mit dir? McGuir… Teddy McGuir?«
Der Junge nickte.
»Natürlich! Läuft nicht ein Verfahren gegen dich?«
Und dann erzählte er.
***
Vor vier Wochen hatte er den Kassierer eines kleinen Vorstadtkinos mit vorgehaltenem Revolver gezwungen, die Tageskasse herauszurücken.
Gestern war die Hauptverhandlung gewesen. Da sich herausgestellt hatte, dass seine Waffe eine Spielzeugpistole gewesen war, hatte das Gericht eine sehr geringe Strafe ausgesprochen.
»Und dafür wolltest du in den Fluss?«, fragte ich, nachdem er die Geschichte erzählt hatte. »Glaubst du wirklich, dass dadurch etwas besser geworden wäre? Damit kann man seine Probleme nicht lösen.«
Er antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen?
Aber wieso kam ein junger Mann, der doch eigentlich keine finanziellen Sorgen hätte kennen dürfen, auf den Gedanken, eine Kasse auszurauben? Das wollte mir nicht in den Kopf.
»Sie haben mich gleich erwischt«, begann der Junge plötzlich, »ich war vier Wochen lang in Untersuchungshaft. Und als ich gestern nach Hause kam, sagten sie mir, meine Großmutter sei gestorben. Sie ist in der Nacht nach meiner Verhaftung gestorben.«
Er richtete sich auf und seine Augen glühten mich an.
»Und jetzt bin ich für die anderen zu Hause Luft. Sie sprechen nicht mehr mit mir, niemand schaut mich an. Dabei weiß ich, dass keiner von ihnen Großmutter wirklich gemocht hat. Sie waren nur auf ihr Geld aus und warteten darauf, es in ihre gierigen Finger zu bekommen.«
»Wer sind ›sie‹?«, fragte ich. »Deine Eltern?«
Er schüttelte den Kopf.
»Meine Mutter, sie war eine geborene Seabrook, ist schon lange tot. Und für meinen Vater spielt Geld keine Rolle. Wir sind die armen Verwandten, Vater und ich. Die armen McGuirs, denen man aus Gnade und Barmherzigkeit ein Dach über dem Kopf bietet.«
Auf einmal war Leben in den Jungen gekommen, sein Gesicht bekam wieder Farbe.
»Und hast du deine Großmutter gemocht, Teddy?«
Er senkte den Kopf.
»Sie war der einzige Mensch unter lauter Marionetten«, sagte er leise. »Und ich habe sie umgebracht. Ausgerechnet ich!«
Diana rückte näher an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Warum hast du’s denn getan, Teddy? Hast du Geld gebraucht?«
Er wurde sehr blass, sagte nichts, schüttelte nur stumm den Kopf und
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