0365 - Im Tempel des Todes
wir weitaus mehr Macht. Hier…«
Sie wußte, daß sie hier in Hongkong keine Unterstützung zu erwarten hatten. Sie waren auf sich gestellt. Es war Torheit gewesen, den Schatzsuchern zu folgen, über die Grenzen des Landes hinaus. Sie mußten unauffällig operieren. Wenn die Schwarze Familie Kenntnis davon erhielt…
Sie wagte nicht weiterzudenken. Bei aller Macht gab es dennoch Gesetze, denen sie alle zu gehorchen hatten.
Deshalb drängte sie die Diener auch nicht. Sie setzte sie nicht unter Erfolgszwang. Sie durfte es nicht riskieren. Nur deshalb lebten die Schatzsucher noch. Aber wenn sie zurückkehren - wurde das Spiel wieder leicht.
»Die Verwandelten werden…«
Ihre Augen blitzten. Zum zweiten Mal zuckte sie kaum merklich zusammen, als der Chauffeur den Ausdruck »Verwandelte« benutzte.
»Ich will dieses Wort nicht mehr hören«, zischte sie. »Du vergißt, mit wem du redest.«
»Verzeiht, Herrin.« Bhatki verneigte sich tief.
»Laß weiter beobachten. Wenn es eine Chance gibt, ihre Lebenskraft zu nehmen, soll sie genutzt werden. Wenn nicht… nun, du kannst alles für eine Rückkehr vorbereiten. Schnell. Geh und handle.«
»Ich eile, Herrin«, versicherte Bhakti und verließ die Hotelsuite, in der die Inderin residierte.
Jedes Leben, das genommen werden konnte, stärkte den Kult. Und wenn es nach dem Ritual genommen werden konnte, stärkte es die Macht.
»Diese Narren«, murmelte die Inderin verächtlich. »Für Gold und Edelsteine tun sie alles. Selbst dieser Zamorra…«
Und der Tag der Rache war nicht mehr fern.
***
Die Stunde des Abschieds war gekommen. Su Ling flog nach San Francisco zurück. Sie hatte nicht das geringste Interesse, mit nach Indien zu kommen und sich in Gefahr zu begeben. Denn im gleichen Moment, da sie mit den anderen in den Regenwald vordrang, gehörte auch sie zum Kreis der von den Unheimlichen Bedrohten. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Das Risiko wollte sie nicht eingehen.
Als Dolmetscherin wurde sie ohnehin nicht mehr gebraucht. Hindi beherrschte sie nicht, und die zweite »Staatssprache«, die in der Tat immer noch Amtssprache war, englisch, beherrschten die anderen naturgemäß auch selbst.
»Vielleicht wartet Wang Lee schon in San Francisco auf mich«, hoffte sie.
In Chet-Scheng, der mongolischen Ruinenstadt, hatte sich Wang Lee Chan verabschiedet und war in die Tiefen der Hölle zurückgekehrt. »Ich kann mich nicht so schnell lösen, wie ich möchte«, hatte er gesagt. »Zuerst muß ich den Fürsten der Finsternis veranlassen, mich von meinem Treue-Eid zu entbinden. Aber dann komme ich zu dir.«
Sie alle wußten, daß das nicht einfach sein würde. Die Hölle ließ freiwillig keinen wieder los, den sie erst einmal in ihren Klauen hatte. Und den Leibwächter des Fürsten der Finsternis erst recht nicht. Dabei stellte sich immer mehr heraus, daß Wang Lee kein Höllendiener sein konnte. Er war zwar dem Oberteufel verpflichtet, aber er kämpfte zu fair. Über kurz oder lang würde er scheitern.
Zamorra hätte ihm gern geholfen, freizukommen. Er wußte, daß der Mongole nicht von Grund auf schlecht war. Er brauchte nur eine Chance.
Aber der Meister des Übersinnlichen wußte nicht, wie er es anstellen sollte. Diesen Kampf konnte Wang Lee nur allein führen. Und unter Umständen gab es ihn nicht einmal mehr. Leonardo deMontagne pflegte mit Verrätern an der Sache der Hölle und solchen, die er dafür hielt, recht radikal umzuspringen. Wang mußte entweder sehr vorsichtig sein - oder Leonardo würde ihn vernichten.
Zamorra glaubte nicht daran, daß Wang schon in San Francisco auf das Mädchen wartete, das in einem früheren Leben einmal seine Frau gewesen war und das er auch jetzt liebte. Aber er äußerte seine Bedenken nicht. Er wollte Su Ling nicht unnötig verängstigen.
Nun saß sie im Jet, der mit einer kurzen Zwischenlandung auf der Pazifikinsel Guam direkt San Francisco anflog. Ihr Arbeitsvertrag mit Rob Tendyke lief weiter. Der Abenteurer, der sich über seinen Gelderwerb ebenso ausschwieg wie über seine Vergangenheit, hoffte, auch weiterhin mit den Chinesen im Geschäft zu bleiben, und dazu brauchte er eine zuverlässige Dolmetscherin - eben Su Ling.
Die anderen statteten sich bereits hier in Hongkong mit allem aus, was sie benötigen würden. Es war hier billiger, und selbst die Luftfracht ließ den Kauf noch günstiger bleiben, als hätten sie sich in Calcutta umgetan. Lediglich die Fahrzeuge würden sie dort beschaffen.
Zamorra
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