0367 - Schreckenstag
unbeweglich.
Wenn ich daran dachte, wie dieses Relikt aus uralter Zeit kämpfen konnte und ich den Eisernen jetzt liegen sah, wurde mir ganz anders zumute. Ihn so zu sehen, war für mich schon depressiv.
Behutsam hob ich den rechten Arm. Mit den Kuppen der Finger strich ich über die Haut. Sehr vorsichtig fuhr ich an den Wangen des Eisernen entlang, suchte nach einer Spur von Leben, aber ich ertastete nur mehr die ziemlich glatte Haut.
Ohne Einkerbungen, ohne Buchten, Erhöhungen. Nur die typischen Gesichtsmerkmale stachen hervor.
Der Engel besaß, wie auch wir Menschen, einen Mund, eine Nase, Augen und Ohren.
Die Hände lagen auf dem Bauch übereinander. Nicht den kleinsten Finger rührte er, kein Atemhauch wehte über seine Lippen. Da ich ebenfalls regungslos vor der steinernen Liege hockte, umgab uns beide die Stille des Todes, denn auch das Summen war verstummt.
Wenn er nur schlief und nicht gestorben war, wie konnte ich es dann schaffen, ihn zu wecken? Vielleicht wenn ich ihn ansprach. Ich bewegte meine Lippen, um die ersten Worte zu sagen.
»Mein Freund, kannst du mich hören?«
Keine Reaktion.
»Bitte, gib eine Antwort, auch wenn es dir schwerfällt. Es ist nicht alles verloren. Ich bin gekommen, um dir zu helfen, wie du mir damals geholfen hast, als ich in Lebensgefahr schwebte, da mich Hemator töten wollte.« [1]
Der Engel rührte sich nicht.
Allmählich verzweifelte ich. Mein Kreuz hatte ich noch nicht zurück, der Würfel war auch verschwunden, und die letzte Hoffnung in der Schlucht der stummen Götter lag da wie tot.
War wirklich alles zu Ende? Hatte die andere Seite, mit dem Spuk als Führer, es geschafft?
Ich stand auf, blieb in der gebückten Haltung und streckte die Arme aus. Mit beiden Händen umfaßte ich den Kopf des Eisernen an den Wangen, um ihn hochzuheben. Vielleicht regte er sich, wenn er spürte, daß ihn jemand aufrichtete.
Es fiel mir nicht leicht. Ich mußte auch meine Stellung verändern und hinter ihn treten. Der Eiserne war sehr schwer. Woraus sein Körper bestand, konnte ich nicht sagen, auf jeden Fall nicht aus Fleisch und Blut.
Unter großen Mühen schaffte ich es schließlich, ihn in eine sitzende Lage zu drücken.
Und so sollte er auch bleiben.
Mit den Händen stützte ich seinen Rücken. Ich wollte auf keinen Fall, daß er wieder umkippte. Plötzlich vernahm ich das Geräusch.
Es war ein leises, dennoch schwer klingendes Stöhnen. Da ich es nicht ausgestoßen hatte und sich auch sonst niemand in der Nähe befand, konnte es nur von dem Eisernen stammen.
Er war nicht tot!
Mir fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Ich ließ ihn los und trat wieder an die Seite seines steinernen Sterbebetts. Scharf schaute ich ihn an. Mein Blick fraß sich in sein Gesicht, ich suchte nach einer Regung in den Zügen, aber sie blieben ausdruckslos.
Dafür passierte etwas anderes.
Der Eiserne öffnete die Augen!
Es waren lange Augenlider, die seine Pupillen bisher vor mir verborgen gehalten hatten. Nun schaute ich direkt auf sie und sah die ebenfalls graue Farbe.
Grau wie Gußeisen oder alte Bronze, jedenfalls nicht normal und nicht so klar wie bei einem Menschen. Hoffentlich erkannte er mich.
Ich setzte mich ebenfalls auf die steinerne Unterlage und umfaßte mit beiden Händen seine Schulterseite.
»Ich bin es, Eiserner. Ein Freund. Dein Freund, John Sinclair!«
Laut hatte ich gesprochen und vernahm das Echo meiner eigenen Stimme durch die Höhle hallen.
Im Gesicht des Eisernen Engels zuckte es. Er bewegte die Lippen, öffnete den Mund und flüsterte die ersten Worte. »Ja, ich habe dich erkannt, John Sinclair. Jetzt erkenne ich dich, aber ich möchte nicht, daß du bei mir bleibst.«
»Und weshalb nicht?«
Ein tiefes Seufzen drang über seine Lippen. »Das will ich dir sagen, John. Wir werden sterben. Beide werden wir sterben. Es ist die Zeit, um dem Leben adieu zu sagen…«
***
Ich erschrak nicht über seine Worte, obwohl sie für den Eisernen mehr als ungewöhnlich waren. Ich saß nur für eine Zeit still und ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Dann widersprach ich ihm.
»Nein, mein Freund, zu spät ist es nicht. Frage dich nur, aus welch einem Grunde ich zu dir gekommen bin? Wer hat mich denn in den Berg hineingelassen? Das waren die stummen Götter, denn auch sie, deine Väter, wollen, daß du überlebst. Hast du verstanden? Sie wollen nicht, daß du stirbst. Du sollst weiter an ihrer Seite kämpfen, und du darfst auch nicht aufgeben. Wir haben
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