037 - Die seltsame Gräfin
doch seine Grenzen! Mitten in der Nacht in das Schlafzimmer einer jungen Dame einzubrechen, erscheint mir eines Gentlemans nicht würdig.«
Lois lächelte schwach.
»Hat er nichts gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er ist davongelaufen wie ein Hase.«
»Erst schickt er dir mitten in der Nacht Schokolade -«
Lois' Blicke streiften den Toilettentisch. Sie sprang mit einem Schrei auf.
»Sie ist nicht mehr da!«
Lizzy machte ein langes Gesicht.
»Fort? Hattest du sie dorthin gelegt?«
»Ich stellte sie auf den Toilettentisch, um mich morgen früh daran zu erinnern - ich denke doch, daß es so war.«
Sie durchsuchten schnell die Küche und den Raum, aber sie konnten die Bonbonniere nicht finden.
»Vielleicht wußte er, daß du nicht gern süßes Zeug ißt, und wollte sie zurückholen.«
Aber Lois achtete nicht auf Lizzy.
»Ich weiß nicht - ich verstehe es nicht -«
In diesem Augenblick rief eine Stimme von unten herauf. Lizzy öffnete die Tür.
»Ist etwas passiert?« Es war der alte Mackenzie.
»Der Mann schläft auch nie, er hätte eigentlich Nachtwächter werden sollen«, flüsterte Lizzy leise. »Nein, es ist alles in Ordnung, Mr. Mackenzie«, rief sie dann laut.
»Ich hörte, daß vor einigen Minuten jemand die Treppe hinunterging und das Haus verließ«, sagte der alte Mann. »Ich dachte, eine von Ihnen wäre krank.«
»Nein, Mr. Mackenzie, das war ich - ich sah nach, ob Miss Reddle die Haustür geschlossen hatte. Gute Nacht.«
Sie kam zurück und schaute nachdenklich auf die Uhr.
»›Um drei Uhr morgens‹ ist ein hübscher neuer Schlager - aber es ist nicht gerade die richtige Zeit für junge Leute, um in den Zimmern junger Damen herumzuschnüffeln. Was wirst du nun machen, Lois? Immerhin hast du nun das Porto für die Bonbonniere gespart. Ich glaube, eine Tasse Tee wäre ganz angebracht.«
Soweit Lizzy in Betracht kam, war jeder Augenblick und jede Gelegenheit recht, um Tee zu trinken. Sie eilte in die Küche und kam zehn Minuten später mit einer Kanne zurück, deren heißer Inhalt ihr und Lois sehr guttat. Ausnahmsweise hatte Lizzy auch genügend Teeblätter genommen.
»Es gibt zwei Wege«, begann Lois. »Erstens könnte ich die Polizei benachrichtigen, zweitens könnte ich persönlich Mr. Dorn aufsuchen und Aufklärung von ihm verlangen. Ich glaube, das zweite tue ich auch. Bitte, gib mir noch einmal seine Adresse.«
»Aber du wirst doch nicht jetzt gleich gehen!« sagte Lizzy erschrocken.
»Nein, ich gehe vor den Bürostunden zu ihm.«
»Da liegt er sicher noch im Bett - es ist ja möglich, daß du ihm die Schokolade wieder wegnehmen kannst, während er schläft«, meinte Lizzy scherzend.
Die Hiles Mansions waren ein stattlicher Häuserblock mit vielen Wohnungen in der Nähe der Albert Hall, aber Mr. Dorns Wohnung war die unscheinbarste von allen. Sie lag im obersten Stockwerk und bestand nur aus zwei Räumen, einem Bad und einer kleinen Eingangshalle. Der Fahrstuhlführer war in Hemdsärmeln und putzte die Messingbeschläge, als Lois zu so früher Morgenstunde ankam. Er war nicht überrascht über ihr Verlangen.
»Er wohnt im obersten Stock, mein Fräulein. Wenn Sie in den Lift treten wollen - entschuldigen Sie bitte meine Hemdsärmel - ich werde Sie nach oben fahren.«
Der Fahrstuhl hielt im sechsten Stock, und der Mann zeigte auf eine der drei einfachen Rosenholztüren, die auf demselben Flur lagen. Sie zögerte einen Augenblick, den Knopf zu drücken, aber dann nahm sie allen Mut zusammen und klingelte. Sie nahm an, daß Sie lange warten müßte, denn wenn Mr. Dorn tatsächlich in der Nacht in ihrer Wohnung gewesen war, würde er jetzt sicher noch schlafen. Aber kaum hatte sie die Hand von dem Knopf zurückgezogen, da öffnete sich zu ihrem großen Erstaunen die Tür, und Michael Dorn stand vor ihr. Er schien schon einige Zeit auf zu sein, denn er war vollständig angekleidet und rasiert. Auch konnte man ihm nicht ansehen, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.
»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Miss Reddle«, sagte er. »Kommen Sie bitte herein.«
Das Arbeitszimmer, in das er sie führte, war viel größer, als sie erwartet hatte; die durch die Dachneigung verursachte schiefe Decke gab ihm einen eigentümlichen, aber interessanten Charakter. Auf den ersten Blick sah sie, daß die Einrichtung aus alten, wertvollen Möbeln bestand. Der Schreibtisch, auf dem eine offene Zeitung lag, war zweifellos Boule-Arbeit. Das einzige moderne Stück in dem Raum war der
Weitere Kostenlose Bücher