037 - Die seltsame Gräfin
gedacht hatte, und am Sonnabendnachmittag wünschte sie sogar, daß sie eine Entschuldigung hätte, um ihn wieder zu treffen. Was wußte er über ihre Mutter? Kannte er die Zusammenhänge schon lange und interessierte er sich deshalb so sehr für sie? Es schien unmöglich, daß er selbst auch nur entfernt an dem Fall beteiligt war. Ihrer Schätzung nach war er ungefähr dreißig Jahre alt, vielleicht auch jünger; er mußte ein Kind gewesen sein, als Mary Pinder vor Gericht stand.
Lois kam plötzlich der Gedanke, daß sie eigentlich auch Pinder heißen müßte, aber das berührte sie kaum.
Am Montagmorgen packte sie ihre beiden Koffer und brachte sie mit Lizzys Hilfe auf die Straße zu dem wartenden Auto. Ihre Freundin war dem Weinen nahe. Der alte Mackenzie hielt sich ängstlich im Hintergrund. Er verließ das Haus nur selten, seit Jahren lebte er hier in freiwilliger Gefangenschaft.
»Warum steckt er seine Nase schon wieder heraus?« fragte Lizzy boshaft. »Wenn du fortgehst, spielt er sicher ›Martha, Martha, du entschwandest‹.«
Aber ihre Prophezeiung erfüllte sich nicht, und Lois kam in das Palais am Chester Square, ohne irgendeinen der Unfälle erlebt zu haben, die Lizzy ihr düster vorausgesagt hatte.
Ein livrierter Portier öffnete ihr die Tür. Man erwartete sie anscheinend, denn er führte sie die breite, mit dicken Läufern belegte Treppe hinauf in einen großen, luftigen Raum. Von hier aus hatte man eine schöne Aussicht auf den Platz.
Lady Moron saß an ihrem kleinen Schreibtisch, als Lois gemeldet wurde. Sie erhob sich in ihrer imponierenden Größe, um sie zu begrüßen. Keine andere Frau hätte das leuchtendgrüne Samtkleid tragen dürfen, das ihre Gestalt so vorteilhaft erscheinen ließ. Auf ihrer vollen Brust glänzte und sprühte ein großer Diamant, der an einer Perlenkette um ihren Hals hing. Ihr Gesicht war weiß gepudert, und ihre schwarzen, hochgeschwungenen Brauen hoben sich scharf davon ab. Lois hatte jetzt Zeit und Gelegenheit, ihre neue Herrin zu betrachten, und sah, daß ihr schwarzes Haar echt war; dagegen waren Augenbrauen und Lider stark nachgezogen.
»Das Mädchen wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen, Miss Reddle«, sagte die Gräfin in ihrer ruhigen Art. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen. Wir leben anspruchslos, und Sie haben keine Pflichten, die eine Dame nicht erfüllen könnte.«
Lois verneigte sich leicht bei diesem Versprechen, und ein paar Minuten später betrachtete sie überrascht ihr neues Schlafzimmer. Es war ein großer Raum im Obergeschoß, der ebenfalls nach dem Platz zu lag. Alle Bequemlichkeiten waren vorhanden, und ohne daß es ihr zum Bewußtsein kam, verglich sie die Möbel Mike Dorns mit diesen. Sie waren ebenso luxuriös.
Sie kleidete sich um und ging dann zum Salon zurück, der gleichzeitig auch Lady Morons ›Arbeitszimmer‹ war. Sie öffnete die Tür und zögerte, denn es waren jetzt noch zwei Herren in dem Raum. Den einen erkannte sie als den jungen, schmächtigen Grafen, der zweite hatte eine gedrungene, untersetzte Gestalt. Sein rotes, volles Gesicht zeugte von seiner Vorliebe für gutes Leben. Wenn er lächelte, was er häufig tat, blitzten seine weißen Zähne auf, die Lois irgendwie an das Gebiß eines Tigers erinnerten, obwohl sicherlich nichts Raubtierartiges an diesem Mann mit dem plumpen Körper und den gelockerten, rötlichen Haaren war. Das einzige Interessante war seine hohe Stirn.
»Mr. Chesney Praye«, stellte ihn die Gräfin vor.
Lois' Finger wurden von einer dicken, großen Hand umschlossen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Reddle.« Seine Stimme klang angenehm, obwohl er etwas heiser sprach. Mit unverhohlener Bewunderung lag sein zudringlicher Blick auf ihr.
»Lord Moron ist Ihnen ja schon bekannt.«
Der junge Graf nickte und murmelte etwas Unverständliches.
»Miss Reddle ist meine neue Sekretärin«, erklärte die Gräfin. Sie sprach die vier Silben des letzten Wortes aus, als ob sie getrennt wären. »Sie werden sie häufig bei mir sehen, Chesney - Mr. Praye ist nämlich mein Berater in finanziellen Angelegenheiten.«
Chesney Praye machte durchaus nicht den Eindruck, als ob er zu dieser Stellung irgendwie befähigt wäre. Er hätte eher einen Rat über den korrekten Schnitt eines Anzugs oder den richtigen Sitz einer Krawatte geben können. Er war tadellos gekleidet. Lois hatte die Redensart geschniegelt und gestriegelt‹ oft gelesen, aber jetzt erlebte sie zum erstenmal, was das bedeutete.
»Sie
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