037 - Die seltsame Gräfin
Fuß zum Justizministerium. Sie füllte ein vorgedrucktes Formular aus und wurde in das Wartezimmer geführt.
Sie hatte wenig Hoffnung, daß der mächtige Unterstaatssekretär ihre Bitte um eine Unterredung erfüllen würde, obwohl sie ihrer Anmeldung ein dringendes Schreiben beigelegt hatte. Die Unmöglichkeit wurde ihr immer klarer, und sie schaute verzweifelt schon zum zehntenmal nach der Uhr, als plötzlich ein Diener in der Tür erschien.
»Miss Reddle? Bitte folgen Sie mir.«
Ihr Herz schlug schneller, als sie an der hohen, imposanten Tür klopfte. Dann trat sie ein und nannte ihren Namen. Ein älterer Herr, der am anderen Ende des Zimmers mit dem Rücken nach dem Kamm saß, erhob sich halb von seinem Stuhl. Vor ihm stand ein großer, prachtvoller Schreibtisch.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte er geschäftsmäßig. »Ich habe Ihren Brief gelesen, und es tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte, aber ich hatte eben eine wichtige Konferenz.« Dann fuhr er ohne weitere Einleitung fort: »Sie haben mir da geschrieben, daß Mrs. Pinder Ihre Mutter ist?«
»Ja, dessen bin ich ganz sicher.«
Er öffnete das große Aktenstück, das vor ihm lag.
»Ich kenne den Fall persönlich«, sagte der Unterstaatssekretär. »Ich war damals als junger Richter tätig, hatte allerdings selbst nicht direkt mit dem Prozeß zu tun. Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Die Strafzeit ist beinahe abgelaufen, und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich warten, bis sie herauskommt, und keine anderen Schritte mehr unternehmen. Auch andere Leute sind an dem Fall stark interessiert, wie Sie vielleicht wissen - ich habe ihnen denselben Rat gegeben.«
»Aber meine Mutter war unschuldig«, sagte Lois.
Er antwortete nur mit einem fast unmerklichen Achselzucken.
»Schuld und Schuldlosigkeit haben das miteinander gemein, daß es nach zwanzig Jahren sehr schwer sein dürfte, das eine oder das andere zu beweisen. Ich habe damals den Fall mit großem Interesse verfolgt. Meiner Meinung nach gab es zwei wesentliche Punkte bei diesem Fall. Der eine bewies eigentlich ihre Schuld über jeden Zweifel hinaus und der andere ihre Unschuld. Aber sie wurden beide bei der Verhandlung nicht erwähnt.«
»Was war das denn?« fragte Lois schnell.
»Erstens war es der Schlüssel zu dem Kasten, in dem die Juwelen und das Zyankali entdeckt wurden. Hätte man diesen Schlüssel im Besitz Ihrer Mutter gefunden, so wäre der Fall restlos aufgeklärt gewesen. Das war auch die Meinung des Richters, der damals den Fall bearbeitete. Der andere Punkt betrifft den Brief, den die ermordete Frau oder die Frau, die man tot auffand, unweigerlich geschrieben hätte, wenn es sich um einen Selbstmord gehandelt hätte. Sie wissen wahrscheinlich auch, daß man einen Federhalter, Tinte und einen Block Schreibpapier, aber keinen Brief auf dem Tisch fand. Der Papierblock war ganz neu, die tote Frau hatte ihn an demselben Morgen gekauft, und es wurde festgestellt, daß ein Blatt abgerissen war. Der Verteidiger nahm den Standpunkt ein, daß die Frau sich auf ihren Selbstmord vorbereitete und einen Brief schrieb, wie die Leute es in solchen Fällen zu tun pflegen. Aber man hat dieses Schreiben nicht gefunden, obwohl man das ganze Haus sorgfältig durchsuchte.«
Dann begann er sie plötzlich über ihr Leben und ihre Persönlichkeit auszufragen. Als sie ihm mitteilte, warum sie glaubte, die Tochter der Mrs. Pinder zu sein, gab er ihr recht.
»Sicherlich stimmt Ihre Annahme«, sagte er.
»Sogar Mr. Dorn glaubt, daß ich recht habe.«
»Dorn?« fragte er schnell. »Sie meinen doch nicht etwa den früheren indischen Polizeioffizier? Kennen Sie ihn?«
»Nicht gerade gut«, gab sie zur Antwort.
Konnte er auch zu den anderen Leuten gehören, die an dem Fall interessiert waren? Aber sie sah sofort die Unmöglichkeit ihrer Vermutung ein. Er schaute sie scharf an.
»Unter welchen Umständen haben Sie Dorn kennengelernt?« fragte er. Lois erzählte ihm ihre Erlebnisse ganz offen.
»Hm - das sieht Dorn ganz ähnlich. Ich meine, er würde nicht hinter einer jungen Dame her sein, wenn nicht noch irgend etwas anderes dabei im Spiel wäre. Er ist ein Mann von größter Ehrenhaftigkeit und Unbescholtenheit«, sagte er sehr bestimmt, und aus irgendeinem Grund war es ihr sehr angenehm, dieses anerkennende Urteil über den Mann zu hören, über den sie sich schon oft geärgert hatte.
Als sich der Unterstaatssekretär erhob und damit das Ende der Unterredung andeutete, drückte
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