037 - Die seltsame Gräfin
erst vierzehn Tage hier. Die Gräfin war so lange auf dem Land.«
Sie zog die Vorhänge zurück. Lois ging zum Fenster und schaute hinunter. Die ausgezackte Ecke des zerbrochenen Balkons erinnerte sie wieder daran, wie nahe sie dem Tode gewesen war. Sie schauderte zusammen, als sie sich auf die entsetzlichen Augenblicke besann, in denen sie in der Luft gehangen hatte.
»Es war der Fehler des Butlers«, sagte das Mädchen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er entlassen wird.«
»Wenn er nicht gewesen wäre, Fräulein, wären Sie überhaupt nicht in Gefahr gekommen! Die Gräfin sagte mir, daß ich Sie heute in das Zimmer des jungen Herrn auf dem unteren Flur umquartieren soll.«
»Aber Lord Moron muß doch nicht meinetwegen ausziehen?« fragte Lois erschrocken.
Anscheinend brachten die Bediensteten dem jungen Herrn dieselbe Geringschätzung entgegen, mit der ihn seine Mutter behandelte.
»Ach, der!« sagte das Mädchen mit einem Achselzucken. »Es ist ganz gleich, wo der schläft, der müßte auch mit der Dachstube zufrieden sein. Er will doch nur Schauspieler werden und mit den verrückten elektrischen Apparaten spielen! Ich bin gespannt, ob die Gräfin ihm erlaubt, so kindisch weiterzuleben.«
So war der sonderbare Wunsch des jungen Grafen allgemein bekannt. Abgesehen von der Bestürzung, daß er ihretwegen aus seinem Zimmer ausziehen mußte, war Lois nicht traurig über ihre Umquartierung. Ihre Freude war nach dem Gespräch mit der Gräfin noch größer.
Lady Moron hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben. An diesem Morgen trug sie ein hellrotes Kleid. Lois dachte, daß es sie alt mache. Sie erwähnte den Zwischenfall nicht, und während der ersten Stunde nach dem Frühstück waren sie mit Briefeschreiben beschäftigt. Lady Moron hatte viel eigene Korrespondenz, außerdem kamen stets noch die üblichen Bettelbriefe hinzu, die auch erledigt werden mußten. Als Lois ihre Arbeit beendet hatte und der Gräfin den letzten Brief zur Unterschrift brachte, sah sie auf.
»Spüren Sie irgendwelche bösen Folgen nach diesem schrecklichen Unglücksfall?«
»Nein«, lächelte Lois.
»Ich habe dem Mädchen gesagt, daß Sie von jetzt ab das Zimmer meines Sohnes bekommen. Selwyn benützt es fast nie, er hält sich lieber in einem kleinen Studierzimmer oben auf und schläft auch fast immer dort. Sind Sie sehr erschrocken?«
Lois schüttelte den Kopf.
»Oder nervös?«
Das Mädchen zögerte.
»Letzte Nacht war ich etwas nervös.«
»Ich dachte es mir, und ich überlegte, wie ich Sie am besten überreden könnte, doch zu bleiben, Sie gefallen mir, und ich brauche eine Frau im Haus, mit der ich mich einmal vertrauensvoll aussprechen kann.« Sie bewegte sich in ihrem Drehstuhl und sah in Lois' Gesicht. »Ich bin nicht gern allein. Ich fürchte mich, allein zu sein.«
»Sie fürchten sich, Lady Moron?«
Die Gräfin nickte. Aber ihre Stimme verriet nichts von Furcht.
»Ich kann Ihnen nicht erklären, warum ich Angst habe, aber ich habe sie - vor gewissen Leuten. Wenn Sie bei mir bleiben wollen, will ich Ihr Gehalt erhöhen, und ich bin auch einverstanden, wenn Ihre Freundin hier im Haus schläft.«
»Meine Freundin?« fragte Lois überrascht. »Meinen Sie Miss Smith?«
Wieder nickte die Gräfin und wandte ihre dunklen Augen nicht von dem Gesicht des Mädchens.
Lois zögerte. »Das würde doch sehr - lästig für Sie sein -«
Die Gräfin machte eine rasche Handbewegung.
»Ich habe die Sache von allen Seiten überlegt, und wenn es Ihnen und Ihrer Freundin recht ist, werde ich noch ein Bett in Ihr Zimmer stellen lassen. Vielleicht möchten Sie Miss Smith besuchen und ihre Meinung darüber hören? Der Wagen wird in einer Viertelstunde für Sie bereitstehen.«
Lizzy Smith sah über die Spitze des Drahtgitters vor dem Fenster die vornehme Limousine ankommen und vor der Tür halten. Entgegen allen Regeln der Geschäftsordnung rannte sie aus dem Büro und traf auf halber Treppe mit ihrer Freundin zusammen.
In wenigen Minuten erzählte ihr Lois von dem Vorschlag der Gräfin.
»Lieber Gott!« sagte Lizzy verblüfft. »Das ist doch nicht dein Ernst?«
Sie ergriff Lois am Arm und zog sie die Treppe herauf. »Komm schnell ans Telefon und sag Ihrer Königlichen Hoheit, daß ich um sechs erscheinen werde!«
12
Lois betrat das Büro nicht, sondern verließ ihre Freundin an der Schwelle und fuhr zu einer wichtigen Unterredung, die sie sich vorgenommen hatte. Sie ließ das Auto in der Parliament Street warten und ging zu
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