037 - Die seltsame Gräfin
er ihr die Hand und sagte noch:
»Wenn Ihre Mutter aus dem Gefängnis kommt, wird sie Ihnen sicher noch viel mehr mitteilen können als irgend jemand von uns. Zum Beispiel ist noch eine Frage offen, wer Ihr Vater war, der ein oder zwei Wochen vor dem Verbrechen verschwand und nie wieder gesehen wurde. Was ist ihm zugestoßen? Ich entsinne mich sogar, daß die Staatsanwaltschaft damals überlegte, ob man nicht Ihre Mutter für sein Verschwinden verantwortlich machen solle.«
»Wie schrecklich!« rief Lois empört.
»Ja - es muß schrecklich gewesen sein.«
Aus dem Ton seiner Worte schien Lois herauszuhören, daß er die ganze Angelegenheit nicht nur vom offiziellen Standpunkt aus beurteilte.
»Bei Verbrechen, mein liebes Fräulein, muß die Staatsanwaltschaft die schrecklichsten Dinge annehmen, und leider hat sie gewöhnlich damit recht.«
Lois war durch diese Unterhaltung nicht viel weiter gekommen, aber sie hatte wenigstens die Genugtuung, einen Anfang gemacht zu haben. Merkwürdigerweise hatte sie sich noch nie eingehend mit der Frage nach ihrem Vater oder mit seinem Verschwinden beschäftigt. Das schien ihr so unwesentlich im Vergleich zu den furchtbaren Qualen ihrer Mutter.
Der Brief und der Schlüssel! Das waren die beiden neuen Punkte, von denen sie vorher nichts gewußt hatte. Sie kehrte mit einer gewissen Befriedigung zum Chester Square zurück und kam gerade zurecht, um einen der seltsamsten Vorfälle mitzuerleben, der sich jemals abgespielt hat.
Als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, hörte sie die schrille, kreischende und ärgerliche Stimme des jungen Grafen und wollte sich zurückziehen. Aber die Gräfin, die sie in der Tür gesehen hatte, rief sie in den Raum.
Selwyn war außer sich vor Wut, sein Gesicht war kreidebleich.
»Das tue ich nicht - das tue ich unter gar keinen Umständen!« brüllte er. »Ich rufe die junge Dame als Zeugin an. Sagen Sie bitte, Fräulein, ist es recht, daß ein Mann in meiner Stellung tun muß, was irgendein verrückter, betrunkener Doktor ihm vorschreibt? Glaube nicht, daß ich mich vor diesem gräßlichen Kerl fürchte - bestimmt nicht! Auch ich kenne das Gesetz, bei Gott!«
»Braime hat nur seine Instruktionen ausgeführt«, sagte die Gräfin mit ihrer dröhnenden Stimme.
Sie stand an ihrem Schreibtisch, spitzte langsam einen Bleistift mit einem kleinen Federmesser und sah von ihrer Beschäftigung nicht auf.
»Es macht mir nichts aus, mein Zimmer einer jungen Dame abzutreten - jeder Gentleman würde das tun. Nebenbei ist auch mein Studierzimmer sehr nett und wohnlich. Aber wenn ich allein ausgehen will, dann will ich allein ausgehen, aber ich will nicht, daß irgendein schrecklicher Verbrecher von einem Butler mich begleitet, selbst wenn alle gräßlichen Ärzte der Welt es vorschreiben. Ich habe schon genug ausgehalten, Mutter!«
Er drohte der Frau mit vor Aufregung zitterndem Finger. Aber sie blieb anscheinend ganz ruhig und spitzte ihren Bleistift weiter.
»Ich habe genug ausgehalten - du magst meinethalben diesen niederträchtigen Chesney Praye heiraten, diesen fürchterlichen, teuflischen Lumpen! Da staunst du - ich weiß das alles, und ich weiß noch viel mehr Dinge, von denen du im Traum nicht ahnst, daß ich sie erfahren habe! Du kannst mein Geld ausgeben, wie es dir gerade paßt, du kannst ihm auch Geld leihen -«
Lois sah, wie Lady Morons Hand sich erhob und liebkosend über das Gesicht ihres Sohnes strich.
»Du bist ein unnützer Junge«, sagte sie lächelnd.
Plötzlich schrie er vor Schmerz auf, taumelte zurück und hielt die Hand auf seine heftig blutende Wange.
Lois wollte ihren Augen nicht trauen, aber sie sah nur allzu deutlich einen langen, geraden Schnitt in seinem Gesicht. Das kleine Messer, mit dem die Gräfin ihren Bleistift gespitzt hatte, war rot von Blut.
13
»Du bist wirklich ein ganz unnützer Junge«, sagte Lady Moron noch einmal, wischte das Messer mit ihrem Taschentuch ab und beschäftigte sich wieder damit, den Bleistift anzuspitzen. »Geh in dein Zimmer und spiel mit deinen elektrischen Batterien.«
Der junge Mann keuchte vor Furcht, drehte sich plötzlich um und rannte aus dem Zimmer. Sein Gesicht war mit Blut besudelt.
Ein tödliches Schweigen folgte, dann schaute die Gräfin auf. »Sie denken vermutlich, daß ich eben etwas Entsetzliches getan habe, aber Selwyn macht manchmal furchtbare Schwierigkeiten und ist so eigensinnig und trotzig, daß ich ihm gegenüber meinen Willen durchsetzen muß - es ist nur zu seinem
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