0374 - Der Vogeldämon
Innenseite aufschlug.
Sie durfte nicht liegen bleiben.
Geduckt kam sie wieder hoch und sah sich um. Die untere Galerie führte am Bordrestaurant vorbei rund um das Schiff. Vorn das Lokal mit der großzügigen Fensterverglasung, durch die die Passagiere schließlich auch etwas von der See sehen sollen, weiter hinten Maschinenraum und Mannschaftsräume oder Lager… es war Nicole egal, worum es sich handelte.
Vorn im Bug zwei Rettungsboote!
Sie huschte darauf zu.
Niemand sah sie. Das Restaurant war leergefegt. Die Schaulustigen drängten sich an Deck. Ihr sensationsgieriges Verhalten kam Nicoles Plan zugute. Sie huschte auf eines der Boote zu, löste die Verschnürung der schützenden Persenning und schaffte es, unter der Plane zu verschwinden.
Dunkelheit, Hitze und verbrauchte, muffige Luft empfing sie. Es stank nach Moder und Salz. Sonderlich gut gepflegt schienen die Boote nicht zu werden. Aber die Hitze unter der Persenning hatte immerhin den Vorteil, daß das durchnäßte Kleid bald trocknete.
Pech war natürlich, wenn jetzt doch noch ein Boot gewassert werden sollte und man ausgerechnet das nahm, in dem Nicole sich verbarg.
Sie wartete ab. Währenddessen überlegte sie, was sie als nächstes unternehmen sollte. Schließlich hatte es keinen Sinn, den Rest der Fahrt hier im Rettungsboot zu verbringen. Sie mußte versuchen, getarnt wieder in die Nähe derer zu kommen, die sie beobachten und notfalls vor Schaden bewahren sollte.
Vor Schaden bewahren! Fast hätte sie sarkastisch aufgelacht. Es war ihr nicht gelungen, eine Beeinflussung Linda Crays zu verhindern, und es war ihr nicht einmal gelungen, sich selbst zu schützen!
Eine Beeinflussung am hellen Tag, stärker als zuvor… das war seltsam. Was hatte dieser Angriff des Vogeldämons zu bedeuten?
Sie wußte es nicht.
Sie wartete in der Dunkelheit ab. Nach einiger Zeit setzte sich der Raddampfer wieder in Bewegung. Nicole wußte nicht, ob sie erleichtert oder empört sein sollte, daß man die Suche nach ihr bereits aufgab.
Jetzt konnte sie beginnen, zu planen…
***
Es war nicht einfach, sich damit abzufinden, jederzeit von einer dämonischen Wesenheit beeinflußt werden zu können. Linda Cray machte sich Vorwürfe. Dabei wußte sie genau, daß sie nichts hatte tun können, um den Mordanschlag zu verhindern. Sie hatte ja nicht einmal bemerkt, daß sie von einem Moment zum anderen unter fremde Kontrolle geraten war. Eben hatte sie noch im Liegestuhl gelegen und sich mit Sandy unterhalten, und dann - fand sie sich an der Reling wieder, von Sandy zur Seite gestoßen und angefaucht!
Dazwischen war nichts — keine Erinnerung an das, was sie getan hatte!
Immer wieder überlegte sie, ob sie nicht zum Kapitän gehen und erklären sollte, daß sie Nicole Duval über Bord gestoßen hatte, daß es nicht ein tragischer Unfall war, sondern Mord. Sie würde verhaftet und vor Gericht gestellt werden.
Für etwas, das sie nicht freiwillig getan hatte, für etwas, zu dem sie gezwungen worden war, ohne sich dagegen wehren zu können, ohne überhaupt davon zu wissen!
Das würde sie doch nie beweisen können! Man würde ihr einfach nicht glauben.
Nur Sandy und die beiden Pascals sahen die Dinge so, wie sie waren. Selbst Cal Garey verhielt sich sehr reserviert. Möglicherweise würde er irgendwann dem Kapitän oder später der Polizei einen Tip geben… sie mußte damit rechnen.
Wie kann ich mich gegen weitere Beeinflussungen wehren? fragte sie sich. Und warum überhaupt bin ich gezwungen worden, Nicole Duval umzubringen? Wie kann sie dem Vogel gefährlich werden, dem Killer-Dämon?
Sie war ratlos und verzweifelt. Sie hatte keine Chance, sich dem Zugriff des Unheimlichen zu entziehen. Sicher, vielleicht half es, wenn sie Tansania verließ und nach England zurückkehrte. Wahrscheinlich würde der Vogel-Dämon sie über diese gewaltige Entfernung nicht mehr erreichen können.
Aber noch war sie hier. Selbst wenn sie beschloß, ihren Urlaubs-Trip sofort abzubrechen, würde sie erst morgen abfliegen können. Bis dahin konnte sie noch einige Male wieder in den Griff des Dämons geraten. Vielleicht wurde sie noch zu weiteren Morden gezwungen.
Und vielleicht… in der kommenden Nacht… würde man sie am anderen Morgen tot auffinden, lächelnd gestorben…?
Tot!
Vielleicht war der Tod eine Lösung, sich dem Unheimlichen zu entziehen und sich nicht noch einmal als Mordwerkzeug mißbrauchen zu lassen…
***
Neben dem Geländewagen lag im Schatten ein uralter Greis.
Weitere Kostenlose Bücher