038 - Der Geistervogel
Es waren die kleinen Gefährten, die in Brockenhausens Regalen gestanden waren und diemit seinem Tod nochmals starben.
Haike weigerte sich, allein in ihrem Zimmer zu bleiben, deshalb blieb Jan bei ihr.
„Was sollen wir morgen erzählen?“ fragte sie.
Jan überlegte kurz. „Wir sagen gar nichts“, stellte er fest.
„Wir tun. als würden wir von nichts wissen. Wenn wir etwas erzählen, hält man uns für verrückt. Sie werden Frau Brockenhausens Leiche entdecken, aber er selbst ist ja verschwunden. Hoffentlich taucht er nie wieder auf.“ Jan steckte sich eine Zigarette an und öffnete die Mappe mit den Papieren, die er mitgenommen hatte.
Er fing zu lesen an. Es handelte sich um stichwortartige Aufzeichnungen Brockenhausens. Je länger er las. um so mehr verstand er alles.
Nur eines blieb ihm ein Rätsel: wie es Brockenhausen gelungen war, sich in einen Vogel zu verwandeln, darüber stand kein Wort in den Aufzeichnungen.
Aber alles hatte mit dem Tod von Brockenhausens Frau begonnen. Er hatte sie ganz bewußt ermordet und danach seine Fähigkeiten entwickelt. Es gelang ihm immer mehr, Gewalt über seine Mitbürger zu bekommen, besonders anfällig waren junge Mädchen.
Er hatte Ingrun in der Gestalt des Geistervogels geraubt, getötet und danach auf den Strand fallen lassen. Er war an allen Ereignissen schuld, am Tod Erna Nielsens, Silkes und auch an Thorensens Tod sowie am Wahnsinn von Frau Thorensen. Er hatte die Alpträume verursacht und die Gerüchte ausgestreut.
Seine Macht war immer größer geworden. Er konnte manche Leute völlig beherrschen und von ihnen verlangen, was er wollte. Er hatte sich des Nachts zu Frauen geschlichen, und sie vergewaltigt, ohne daß sie etwas davon wußten.
Nachdem er die Aufzeichnungen fertig gelesen hatte, verbrannte Jan sie.
Es wurde hell, und beide dachten nicht ans Schlafen.
Sie lagen eng aneinander geschmiegt auf dem Bett und sprachen nicht viel. Sie lauschten dem Schlagen ihrer Herzen, und langsam löste sich die Spannung.
Einem Fischer fiel auf, daß noch immer die Scheinwerfer des Leuchtturm; brannten. Er fand die tote Frau Brockenhausen, vom Leuchtturmwärter entdeckte er aber keine Spur.
Die Polizei wurde eingeschaltet, konnte aber keine Erklärung für das Verschwinden Brockenhausens geben.
Der Arzt stellte fest, daß Frau Brockenhausen seit mindestens sieben Monaten tot sein mußte, etwas, das kein Mensch verstand, da sie doch noch vor wenigen Tagen lebendig gewesen war.
Die beiden, die das Rätsel hätten aufklären können, schwiegen.
Zwei Wochen später wurde der Geistervogel an den Strand getrieben. Es war schon fast dunkel, als ihn das Meer freigab.
Frau Sigrun Froster entdeckte ihn. Neugierig kam sie näher, denn so einen riesigen Vogel hatte sie noch nie gesehen.
Sie bückte sich und starrte ihn interessiert an.
Plötzlich richtete sie sich leichenblaß auf und rannte laut schreiend ins Dorf.
Im Nu bildete sich eine Menschenansammlung. Neugierig strömte die Menge zum Strand, wo der Geistervogel lag.
Jemand faßte sich ein Herz, zog einen der Riesenflügel zur Seite, und da sahen sie es alle.
Die Leute schrien auf.
Der Riesenvogel hatte einen menschlichen Kopf. Der Vogel lag auf dem Bauch, und man konnte nur das kurz geschnittene blonde Haar sehen. Sie drehten den Vogel um, und alle sahen es.
Brockenhausen blickte sie aus gebrochenen. rotglühenden Augen an. Der Mund war weit offen, wie zu einem Schrei geöffnet.
Haike und Jan standen in der Menschenmenge. Sie drängte sich eng gegen ihn.
Jan legte seinen Arm um ihre Schulter. Dann gingen sie rasch davon und drehten sich nicht mehr um.
Ende
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