038 - Verbotene Sehnsucht
ausführlicher. Sie war eine schöne Frau, daran konnte kein Zweifel sein. Ihr Haar und ihre Augen waren geradezu dramatisch dunkel, ihre Lippen rot und voll. Doch es war eine keineswegs schlichte Schönheit. Viele Männer würden sich von der Intelligenz, die in den dunklen Augen aufschien, und dem skeptischen Zug, der um die sinnlichen Lippen lag, nicht gerade ermutigt fühlen.
„Weil Sie ihn geliebt haben." Sam ließ sie nicht aus den Augen, als er das sagte, und sah ein kaum merkliches Flackern in den ihren. Er hatte also recht gehabt: Sie hatte ihrem Bruder sehr nahgestanden. Wäre er nett, würde er ihre Trauer nicht ausnutzen. Aber Nettigkeit hatte ihm noch nie viel gebracht, weder privat noch geschäftlich. „Ich glaube, Sie würden es seinetwegen - für sein Andenken - tun."
„Was Sie nicht sagen", gab sie sich wenig überzeugt.
Aber er wusste es besser. Das war eines der ersten Dinge, die er in seiner Firma gelernt hatte: den genauen Moment abzupassen, wenn sein Gegenüber schwankte und der Lauf der Verhandlungen zu Sams Gunsten umschlug. Der nächste Schritt bestünde darin, seine Position zu festigen. Abermals bot er ihr seinen Arm. Nach einem kurzen irritierten Blick ließ sie wiederum ihre Hand - oder vielmehr nur die Fingerspitzen - in seiner Armbeuge ruhen. Innerlich triumphierte er, dass sie ihm nachgegeben hatte, war jedoch sorgsam darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen.
Stattdessen führte er sie betont gleichmütig tiefer in den Garten hinein. „Meine Schwester und ich werden nur drei Monate in London bleiben. In dieser kurzen Zeit erwarte ich keine Wunder von Ihnen."
„Warum ersuchen Sie dann überhaupt meine Hilfe?"
Er wandte sein Gesicht der Abendsonne zu und genoss es, draußen zu sein, fort von dem Gedränge im Salon. „Rebecca ist erst neunzehn. Ich bin geschäftlich sehr beansprucht und sähe es gern, wenn sie gut unterhalten wäre und vielleicht auch einige junge Damen in ihrem Alter kennenlernen würde." Was alles stimmte, wenngleich nicht die ganze Wahrheit war.
„Gibt es keine weiblichen Verwandten, die diese Aufgabe übernehmen könnten?"
Belustigt über ihre fast schon taktlose Frage, sah er zu ihr hinab. Lady Emeline reichte ihm gerade mal bis zur Schulter, doch schien sie ihm keineswegs so zierlich und harmlos, wie ihr Mangel an Größe vermuten ließe. Dass man sie nicht unterschätzen durfte, war ihm bereits in jener halben Stunde klar geworden, als er sie, ehe er sich an sie und Mrs. Conrad herangepirscht hatte, aufmerksam beobachtet hatte. Die ganze Zeit hatte sie ihren Blick schweifen lassen. Nichts schien ihr zu entgehen. Sogar während der Unterhaltung mit ihrer Gastgeberin hatte sie ihre jungen Schützlinge nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen und jede Bewegung der anderen Gäste verfolgt. Er würde darauf wetten, dass sie ganz genau wusste, wer mit wem wann wie lange worüber gesprochen hatte, was angedeutet und was ungesagt geblieben war. In ihrer eigenen, exklusiven Welt war sie vermutlich ebenso erfolgreich wie er in der seinen.
Was es nur noch wichtiger machte, dass sie es war, die ihm Zugang zur Londoner Gesellschaft verschaffte.
„Nein, die gibt es leider nicht", antwortete er auf ihre Frage. „Unsere Mutter starb bei Rebeccas Geburt und Pa bald darauf. Glücklicherweise hatte mein Vater noch einen Bruder, der Geschäftsmann in Boston war. Er und seine Frau haben Rebecca bei sich aufgenommen und sie großgezogen. Beide sind mittlerweile aber auch verstorben."
„Und Sie?"
Irritiert sah er sie an. „Wie - und ich?"
Sichtlich gereizt erwiderte sie seinen Blick. „Was war mit Ihnen, als Ihre Eltern gestorben sind?"
„Ich wurde auf ein Internat geschickt", erwiderte er nüchtern und ließ mit keinem Wort erkennen, welch schwerer Schock es gewesen war, die Hütte im Wald verlassen zu müssen und in einer Welt der Bücher und strengen Disziplin zu landen.
Sie waren an einer Mauer angelangt, die zugleich das Ende des Weges markierte.
Lady Emeline blieb stehen und wandte sich zu ihm um. „Bevor ich mich entscheide, muss ich Ihre Schwester kennenlernen."
„Aber natürlich", erwiderte er beiläufig und wusste, dass er so gut wie gewonnen hatte.
Sie schüttelte mit einer kurzen, knappen Bewegung ihre Röcke auf, zog die dunklen Augen nachdenklich zusammen und spitzte die roten Lippen. Auf einmal sah er im Geiste ihren toten Bruder vor sich: Genau so hatte auch Reynaud stets die Augen verengt, wenn er einen der einfachen Soldaten
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