0383 - Londons Gruselkammer Nr. 1
Lache aus flüssigem, heißen Wachs gebildet, das noch immer Nachschub bekam und so wie zäher Honig über die erste Stufenkante rann und sich auf der Treppe ausbreitete.
Und das war es auch, was zurückblieb.
Eine Lache.
Geträumt hatte ich nicht, denn ich sah den Stock dort liegen und hob ihn auf. Die letzten Flammen verloschen. Dünne Dampfschwaden stiegen von der Oberfläche des flüssigen Wachs in die Höhe. Sie verbreiteten einen stechenden Geruch und verteilten sich kreisförmig.
Ich wischte über mein Gesicht, auf dem der kalte Schweiß als eine zweite Haut lag.
Allmählich klang auch in mir die Spannung ab. »Suko«, flüsterte ich mir selbst zu, »du hattest unrecht. Dein Kamikaze ist zu Hause geblieben, man hat uns einen anderen geschickt.« Ich schüttelte den Kopf und ging den Weg zurück, den ich gekommen war.
Meine Knie zitterten doch ein wenig, da bin ich ehrlich genug, dies zuzugeben. Ich drückte wieder die Tür auf und betrat den normalen Hausgang. Mit dem langen Knüppel in der rechten Hand kam ich mir vor wie Rübezahl auf Urlaub in England.
Natürlich hatte sich der Gang nicht geleert. Die Leute standen herum und warteten, daß etwas geschah. Noch immer war die Energieversorgung unterbrochen.
Ich kannte den Mann, der mich ansprach. Nur hielt der Typ diesmal eine Flasche Bier in der Hand, die er fast geleert hatte. »Ein Bulle mit einem Knüppel. Das ist doch symbolisch!« motzte er mich an.
»Halten Sie den Mund!« wies ich ihn zurecht.
Er lachte nur frech.
Nach den Vorgängen hatte ich keine Lust, mich mit ihm weiter auseinanderzusetzen und ließ ihn einfach stehen. Bis zu meiner Wohnung waren es nur ein paar Schritte.
Ich schellte.
Suko war vorsichtig und hielt die Tür geschlossen. Ich konnte es ihm nicht verdenken, deshalb klopfte ich und meldete mich mit Namen. »Ich bin es, John!«
Der Inspektor zog die Tür auf.
Hinter ihm sah ich Shao stehen, die er sicherheitshalber in seine Nähe geholt hatte. Beide schauten mich verwundert an, als ich meine Wohnung betrat und den langen Holzknüppel gegen die Wand lehnte.
»Was ist geschehen?« fragte der Chinese. Er schielte auf die hölzerne Schlagwaffe.
Bis zur Küche ging ich durch und goß mir ein Glas Mineralwasser ein, das ich mit ins Wohnzimmer nahm, wo mich die beiden gespannt erwarteten.
»Kamikaze war es nicht«, erklärte ich.
»Wer dann.«
Ich deutete auf zwei Sessel. »Laßt euch nieder, dann erzähle ich von Beginn an.«
Suko setzte sich, Shao ebenfalls. Sie schauten mir ins Gesicht.
Shao meinte: »Du machst es aber verdammt spannend, John.«
»Und das genau ist es auch, mein? Liebe«, erwiderte ich…
***
Die Tooley Street liegt so dicht an der Themse, daß man das schmutzige Wasser riechen kann. Eigentlich wäre die Tooley Street zwischen all den bekannten Sehenswürdigkeiten in unmittelbarer Nähe in Vergessenheit geraten, wenn es dort nicht etwas gegeben hätte, über das man sehr oft sprach und das auch in der letzten Zeit eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Zwar war es nicht so bekannt wie das Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud, dafür wesentlich schauriger und unheimlicher.
Besucher mit schwachen Nerven wurden davor gewarnt, dieses Haus zu betreten, dessen Name sich allmählich auch auf dem Festland herumgesprochen hatte und gerade wegen seiner Schauerlichkeit so viele Touristen anlockte.
THE LONDON DUNGEON!
So nannte es sich. Frei übersetzt ungefähr soviel wie das Londoner Burgverlies. Oder auch der Londoner Kerker. In diesen Räumen fand der Besucher die Realitäten und Schrecken aus der englischen Historie. Das Leben in jenen Tagen war verdammt nicht einfach gewesen, sondern hart. Und in diesem feuchtkalten Haus in der Tooley Street fühlte sich jeder Besucher in die alten Zeiten zurückversetzt.
The London Dungeon hatte in den letzten Jahren einen immer größeren Zuspruch erhalten, und man konnte es schon als kleine Konkurrenz zu dem weltberühmten Wachsfigurenkabinett bezeichnen. Jemand hatte mal gesagt, es wäre Londons Gruselkammer Nummer 1. Und das war nicht übertrieben.
So hell, sonnig und strahlend der Tag auch über London lag, im Innern des alten Hauses war es immer düster. Hier schlich das Grauen durch die Räume, es war der unsichtbare Begleiter der Besucher, die hin und wieder aufschrien, wenn sie eine besonders schlimme Szene sahen.
An das alles hatte sich Peter Rawl gewöhnt. Er arbeitete im London Dungeon, kassierte Eintrittsgelder, amüsierte sich oft genug über
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