039 - Wolfsnacht
paar Wiener Pflastersteine mitgebracht?«
»Geschäftsunterlagen. Papier ist schwer, mein Lieber.«
»Was macht Wien?« erkundigte ich mich, während wir das Flughafengebäude verließen. »Stehen der Stephansdom und das Riesenrad noch?«
»Es ist alles beim alten. Du solltest mich mal wieder besuchen.«
»Mach’ ich gern, sowie ich ein bißchen Zeit habe.«
»Vergiß aber nicht, Vicky mitzubringen.«
»Wie wär’s, wenn ich gleich mit allen meinen Freunden anrücken würde?«
»Ihr wärt mir alle herzlich willkommen. Mr. Silver, Roxane, Vicky Bonney, Tucker Peckinpah, Oda, Lance Selby…«
Er sah, wie mir das Gesicht einfror. Wir stellten sein Gepäck in den Kofferraum meines Wagens.
»Irgend etwas ist passiert, Tony, stimmt’s?« fragte Vladek Rodensky.
»Stimmt«, gab ich zurück und schwang mich hinter das Steuer meines Peugeot.
»Was? Erzähle!«
Ich startete den Motor und fuhr los. Während wir Richtung Paddington unterwegs waren, erzählte ich ihm von der Sache, und als er von Lance Selbys bitterem Schicksal hörte, drückte das schwer auf seine Stimmung.
Es war klar, daß er in meinem Haus wohnen würde, und Vladek meinte, daß er gleich Lance besuchen würde, sobald wir in der Chichester Road eintrafen.
»Kull wird sich nicht so einfach geschlagen geben«, meinte Vladek nachdenklich. »Er wird Tucker Peckinpah auf eine andere Weise umbringen wollen.«
»Das ist zu befürchten. Deshalb zerbreche ich mir schon tagelang den Kopf darüber, wie wir den Industriellen am sichersten vor allen Gefahren abschirmen können. Zur Zeit kümmert sich noch Roxane um ihn, aber das ist keine Dauerlösung, denn Roxane möchte Mr. Silver helfen, Cuca wiederzufinden.«
Vladek Rodensky schüttelte den Kopf. »Er hat einen Sohn. Silver hat einen Sohn, wer hätte das gedacht.«
»Nicht einmal er selbst«, sagte ich. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel ihm daran liegt, diesen Sohn zu finden. Wir nehmen an, daß Cuca den Aufenthaltsort von Silver II kennt.«
»Heißt er wirklich Silver II?«
»Vorläufig ja. Seinen richtigen Namen kennen wir noch nicht.«
»Ich wünschte, ich könnte etwas dazu beitragen, daß Silver seinen Sohn findet«, sagte der Brillenfabrikant.
Ich hob die Schultern. »Wer weiß, vielleicht kriegst du noch mal die Gelegenheit dazu.«
***
1956
Es kriselte…
Kriselte in England, in Frankreich, in Ägypten. Abd el Nasser hatte die Suez-Kanal-Gesellschaft enteignet, und es war zu einer bewaffneten Intervention in Ägypten gekommen. Unter dem Druck der UNO und der öffentlichen Meinung mußten sich die Truppen jedoch zurückziehen und die Kanalzone räumen…
Es kriselte aber auch in London – nicht nur wegen dieser großpolitischen Ereignisse.
Sondern wegen grauenvoller Morde.
Ein schreckliches Monster trieb in der Stadt an der Themse sein Unwesen. Die Menschen kamen nicht zur Ruhe. Immer neue Morde wurden gemeldet. Man wagte sich nachts nicht mehr auf die Straße, doch man war auch in seinem Heim nicht sicher.
Die Bestie holte sich ihre Opfer auch in Häusern und Wohnungen.
London stöhnte in einem Würgegriff aus Angst und Schrecken.
Ein Werwolf tötete mit erschreckender Grausamkeit. Überall war er schon aufgetaucht. In Soho, in Paddington, in Westminster, in Mayfair…
Die Behörden unternahmen alles, um die mordlüsterne Bestie unschädlich zu machen; man stellte dem Ungeheuer unzählige Fallen, doch in keine tappte der Wolf. Er war schlau und vorsichtig. Was immer man gegen den Werwolf unternahm, es fruchtete nichts.
Nachts war er ein gefährlicher Wolf, am Tage ein Mensch, dessen entsetzliches Geheimnis niemand kannte.
Tage-, wochen-, monatelang jagte man das Untier, vermochte es jedoch nicht zur Strecke zu bringen. Immer wieder holte sich die Bestie ein Opfer, während die Polizei im dunkeln tappte und sich nur darauf beschränken konnte, die Schreckenstaten, die auf das Konto des Werwolfs gingen, zu registrieren.
Der Mann, der die erfolglose Jagd leitete, war Inspektor Sam Taylor von Scotland Yard, dreiundvierzig Jahre alt, untersetzt, aber zäh, kräftig und von dem Wunsch beseelt, dem blutigen Treiben ein Ende zu bereiten.
Man hatte ihn aller anderen Aufgaben enthoben, damit er sich nur auf diese lange, nervenzermürbende Jagd konzentrieren konnte. Er, der Junggeselle, der keine Familie hatte, auf die er Rücksicht nehmen mußte, wäre sogar bereit gewesen, sein Leben zu opfern, wenn es ihm damit gelungen wäre, den Wolf unschädlich zu machen.
Taylor
Weitere Kostenlose Bücher